Fahlmann. Christopher Ecker

Fahlmann - Christopher Ecker


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es sich um ein Produkt zweifelhafter Güte. Für Roséweine, hastiges Blättern, bzw. Weißherbstweine werden die Rotweintrauben nach einigen Stunden von der Maische abgekeltert und anschließend wie weißer Most vergoren. Nach der Hauptgärung folgt meist eine gelindere Nachgärung, die einen biolog. Säureabbau usw. Ich schrieb den kompletten Eintrag aus Meyers Taschenlexikon ab und fühlte mich dabei noch schäbiger als der gute Müller-Rosé mit seinen entzündeten Pickeln und dem schlecht sitzenden Toupet. Und wie sollte ich mit Professor Kuckuck verfahren, der, wenn ich mich nicht täuschte, die letzten Seiten des Krull mit seiner beleibten (?) Anwesenheit erfüllt? Sollte ich etwa seitenweise ornithologischen Schwachsinn zum Besten geben? Kuckucke [niederdt.] (Cuculidae), weltweit verbreitete Fam. schlanker, vorwiegend braun und grau gezeichneter, sperling- bis hühnergroßer Vögel mit rd. 130 Arten, v. a. in Wäldern, Steppen, parkartigen Landschaften und bei Thomas Mann, dem ungekrönten Meister der Namensgebung, dem dornengekrönten Meister des geistreichen Tagebuchs.

      Sie wollen Beispiele, Professor Capart? Nun gut, hier sind die Beispiele, aber sagen Sie hinterher nicht, man hätte Sie nicht gewarnt! – Gedünstete Zwiebelringe bei der Arbeit verzehrt. K. klagt über meine schweren Blähungen (undatiert). – Verblüffend frühzeitiger Samenerguss mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit (2. III. 45). – Gute Laune dank Frivol (5. IV. 32) – Ich riss das Blatt aus der Maschine. Dieser Planet kann nicht kolonisiert werden! Dieser Fall wird nicht übernommen! Dieses Haus hat weder Fenster noch Türen! Ja, es überstieg meine Kräfte, diese Arbeit zu schreiben. Das alles raubte mir die Lust am Leben. Keine Sekunde länger durfte ich über diese bescheuerten Namen nachdenken! Was trinken Sie zum Geburtstag? – Einen Müller-Rosé, Frau Nutte! Ich konnte nicht länger an meinem eigenen Roman weiterarbeiten, wenn sich neben dem Schreibtisch der schiefe Turm der Thomas-Mann-Bände erhob. Vorwurfsvoll. Lindgrün. Doof. Ich brachte die Bücher zurück in die Universitätsbibliothek, wo sie hingehörten. Tage später verlegte ich den Zettel mit der amüsanten Namensliste. Zwei Wochen später erinnerte mich Polkinger lautstark daran (die tüteligen Damen von der Institutsbibliothek bekamen alles mit), dass ich den Abgabetermin der Hausarbeit längst überschritten hätte. Ich faselte etwas von plötzlichen Sterbefällen in der Familie und rief am selben Abend Professor Capart unter seiner Privatnummer an. «Die Arbeit ufert aus. Es war unumgänglich, einen langen Exkurs einzuschieben, zu dem größere Recherchen in der UB notwendig waren.» – Verwundert: «Einen Exkurs?» – «Ja, einen Exkurs über …» Fontane fiel mir ein. Und Reuter. – «Einverstanden. Reichen Ihnen drei Wochen?» – «Selbstverständlich.» – «Hat er dir noch Zeit gegeben?», rief Susanne aus dem Wohnzimmer.

      «Drei Wochen», sagte ich. «Das schaff ich nie!» Susanne lag auf der Couch und studierte die Fernsehzeitung. Unter dem Minirock konnte ich (erlaubter Voyeurismus) den weißen Keil ihres Höschens sehen. «Du sagst doch immer, das Studium wär so einfach. Zieh die Sache durch, dann hast dus hinter dir!» – «Ja, es ist einfach, aber ich kanns nicht!» Ich ließ mich in den Sessel fallen, auf den ihre Beine zeigten: noch mehr erlaubter Voyeurismus. Die Freibadbesuche mit Anja hatten Susannes Haut gebräunt und feine Härchen sichtbar gemacht. Sie sah gut aus, sie durfte ins Schwimmbad, und an mir ging das Leben vorüber wie ein dicker, reicher Mann mit Smoking, Zylinder und Zigarre an einem Cartoonbettler. Capart, was für ein kranker Name! Thomas Mann hätte ihn sich nicht besser ausdenken können! «Und wieso kannst du das Ding nicht schreiben?» – «Ich kanns einfach nicht.» – Susanne legte die Fernsehzeitung auf den Wohnzimmertisch, wartete. – «Früher», gestand ich, «habe ich gerne Thomas Mann gelesen … wie er die Erdbeeren … das ist ja wirklich verdammt gut geschrieben … aber alles, womit man sich an der Uni beschäftigt, wird einem vergällt … als würden sie einem Drogen ins Trinkwasser … Kommt heute was im Fernsehen?» – «Der übliche Mist.» Pause. «Ich geh nachher sowieso noch weg.» – «Noch weg», bemerkte ich matt. Bevor ich den Raum verließ, drehte ich mich um. «Ich … äh … wollt dir noch was sagen: Gut siehst du aus!» – «Danke», sagte Susanne und schlug die Fernsehzeitung auf.

      Das nächste Telefonat mit Capart hatte ich vier Wochen später geführt. Nun ging ich aufs Ganze und verwickelte ihn in ein längeres Fachgespräch. «In einem literarischen Werk ist die Namensgebung nicht unproblematisch. Eine dicke Frau kann Dommel heißen, ein Luder nie Doose. Ein Bestattungsunternehmer darf nie Grahlmann heißen. Ein alter, dünner Herr mit Hermann-Hesse-Brille kann aber durchaus Grahl heißen. Ein Name wie Gotter ist eine dunkle falsche Fährte; Raumhuber kommt nie aus der Kneipe nach Hause; Kasbohn riecht; aber Karlinski geht schon wieder. Das war jetzt vielleicht ein wenig zu unsachlich …» Leise klappte mein Doppelgänger, den ich die ganze Zeit über im Flurspiegel mit reserviertem Ekel beobachtet hatte, das Telefonbuch zu. «Ein wenig zu unsachlich?», wiederholte ich fragend. – «Oh, das war keineswegs unsachlich!» – «Untersuchte man die Namen im Werk Thomas Manns unter ähnlichen Gesichtspunkten, käme vielleicht als Ergebnis heraus, dass sie strenggenommen gar nicht funktionieren dürften.» – «Aber sie tun es!», bemerkte Capart entzückt. «Jedenfalls fast immer, denn Namen wie Serenus Zeitblom, Adrian Leverkühn oder Hofbräu …» – «Ja, das ist zu dick. Viel zu dick! Äh, Hofbräu ist zu dick! Den Namen meine ich. In München da steht Hofbräus Haus!», rief ich und schämte mich über meine unterwürfige Euphorie.

      Und nun, nach der fürchterlichen Begegnung im (s. o.) Aufzug des Todes, müsste ich Capart demnächst ein drittes Mal anrufen; Achim würde sich schlapplachen. Unversehens ist mein Leben zu einem langen, in der Sonne weiß glühenden Gleis geworden, auf dem ich eine Hausarbeitsdraisine durch Telefonanrufkraft wochenweise vor mir herschiebe, ohne jemals den Zielbahnhof zu erreichen, wo mich ein greiser, unartige Liedchen trällernder Capart auf einem Schrankkoffer voller Literaturlexika erwartet. Capart ist der einzige Professor in der Germanistik, der die Seminararbeiten schon während des Semesters haben will. Weshalb? Das hat doch überhaupt keinen Sinn! Aber vielleicht ist es doch zu bewältigen. Ich muss, ich muss, ich muss diese beschissene Arbeit schreiben! Dies hatte ich etwa einen Tag nach der Aufzugsfahrt mit Capart und etwa einen oder zwei Tage, bevor ich mich über den Schreibtisch beugte, um erneut über Namen nachzudenken, notiert.

      Im wirklichen Leben (was auch immer das sein mag) schienen die Namen seltsamerweise immer zu passen. Alle Namen! Winkler konnte nur Winkler heißen, Marsitzky nur Marsitzky, und dass hinter der hübschen Jasmin der tumbe Nachname Rimbach hertrottete, passte auch irgendwie. Irgendwie, aber wie? Ich zerbrach mir nicht zum ersten Mal über dieses vertrackte Thema den Kopf, denn es war mir noch nie leichtgefallen, richtig klingende Namen für meine Protagonisten auszudenken, unaufdringliche Namen, die fest mit ihrem Wesen verschmelzen ohne ausgedacht zu wirken. Nie, aber auch wirklich nie, hätte ich eine meiner Figuren Capart genannt (außer vielleicht den langzahnigen Kutscher eines karpatischen Fürsten). In der Wirklichkeit hingegen ging dieser Name bedenkenlos durch. Komisch. Wieso sollte er dann nicht auch in einem literarischen Text funktionieren? Capart spürte das beruhigende Gewicht der Luger in der Hosentasche. Capart hatte den Berg schon oft zuvor erklommen, aber heute war ein besonderer Tag: Heute würde er Polkinger auf dem Gipfel treffen. Nur mit solchen Beispielsätzen gelang es mir, einen Namen auf Texttauglichkeit zu testen. Die Hauptperson meines Romans hatte ursprünglich heißen sollen: Eisler (zu kalt), dann Lindner (zu warm, zu wurmig), und erst nach mehreren Wochen und hunderter solcher Testsätze hatte ich einen wohltemperierten Namen gefunden, der passte, einen wunderbaren, zweisilbigen Namen, der gleichzeitig hart und dumpf klang. Vielleicht hätte ich meinen Helden auch Capart nennen können. Obwohl: Mein Held sah nicht wie ein Capart aus. Caparts waren dümmliche Greise, die sich darin gefielen, nett zu jungen Lyrikern zu sein, weil diese sie irrtümlicherweise an jüngere Versionen ihres Ichs erinnerten. Bestimmt hatte der junge Capart geschriftstellert, Selbstgereimtes im Stil Gottfried Benns, und heute schrie die Prostata. Namen. Weiter über Namen nachdenken!

      Um seine charakterlosen Protagonisten zu benennen, arbeitete Winkler mit einem Namenslexikon, während ich meine Erinnerungen plünderte (ehemalige Nachbarn, Lehrer, Feinde), seltener Anagramme bastelte, noch seltener eigene Erfindungen verwendete oder, wenn gar nichts mehr ging, das Telefonbuch von Kiel bemühte. Von Kiel, damit ich nicht in Gefahr lief, den Leuten aus meinen Texten irgendwann einmal auf der Straße zu begegnen. Das Telefonbuch von Kiel, das damals immer auf meinem Schreibtisch lag, war ein wunderbares Buch voller enigmatischer Einträge wie: Mehmet Nuri Atabek, Mustafa Atak, Altanta Segelyacht, ATARI Fachhändler, Seydi


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