Fahlmann. Christopher Ecker

Fahlmann - Christopher Ecker


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sich meine Bedenken noch während des Gesprächs, denn Großvater sah alles gelassen und arbeitete mit allen Tricks. «Nein», antwortete ich ihm eine Spur zu gereizt. «Es hat mir nicht geschadet, als Kind Gespensterhefte gelesen zu haben, aber es reißt mich nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin, wenn mir mein siebenjähriger Sohn irgendwelchen Unfug über ‹coole Waffen› erzählt! Und um deiner Frage zuvorzukommen: Nein, es hat mir nicht geschadet!»

      «Liest du mir Quatschlieder vor?», fragte Jens.

      «Gerne.» Ich legte die Füße auf die fünfte Sprosse der Leiter und zog schWEINe-essIG aus dem Regal, wo es in Gesellschaft von Walt Disney’s Lustigen Taschenbüchern bestens aufgehoben war. Jens mochte meine Gedichte. Lachte er darüber, stellte sich bei mir ein nicht uninteressantes Gefühl der Zufriedenheit ein, das Buch veröffentlicht zu haben. Winkler würde das nicht verstehen! Er hatte sich kein einziges Mal zu meinem Gedichtband geäußert und war wohl aus Neid, selbst keinen Verlag für seine exzentrischen Texte voller redender Tassen und beleidigter Kaffeekannen gefunden zu haben, zu keiner meiner Lesungen gekommen, aber das hatten wir ja schon. Hatten wir das schon? Ich weiß es nicht, aber Sie können es nachschlagen. Sie haben ohnehin die besseren Karten. Also spielen Sie damit! Zurück zu Winkler! Wer sich nicht für mich interessierte, würde selbstverständlich nie anvertraut bekommen, wie schWEINe-essIG wirklich entstanden war! So einfach war das! Außerdem musste man vorsichtig sein, was man ihm erzählte, denn er klaute alles, was ihm unter die Finger kam. «Darf ich das haben?», fragte er beiläufig, ein reines Ablenkungsmanöver, denn er hatte längst mit seinem Schmetterlingsnetz ausgeholt und die betreffende Formulierung aus der rauchgeschwängerten Luft des Wohnzimmers gefischt. «Das habe ich schon verwendet», sagte ich. – «Und jetzt gehört es mir», sagte Winkler, der außerdem, wie er mir einmal stolz gestand, alle guten Stellen in Büchern, die er las, für spätere Plünderungsarbeiten mit Kringeln markierte. Ich kannte nicht alle seine Texte, aber in den wenigen, die ich kannte, fanden sich beängstigende Echos unserer Gespräche und, was mich weitaus mehr fuchste, meiner Erzählungen. Natürlich wusste ich, dass ich ihm meine Prosa niemals zeigen dürfte (und schon gar nicht die ersten Kapitel des Romans), doch nach einigen Bieren besiegte die Eitelkeit regelmäßig die Vernunft, und ich erwachte am folgenden Morgen mit der Gewissheit, dass nun meine besten Ideen fröhlichen Einzug in Winklers Geschichten hielten. Vielleicht benannte er sogar eine seiner belebten Tassen nach meinem Helden, stahl mir diesen wunderbaren Namen, ohne den mein Roman blass und farblos wäre. Mit dem Namen raubte man meinem Helden sein Wesen, seine Eigenarten, seinen Charakter, raubte ihm alles, was er besaß, und sollte ich eines Tages herausfinden, dass Winkler mir diesen Namen gestohlen oder einen ähnlichen Namen verwendet hätte, der sich, sagen wir mal, nur durch einen einzigen Buchstaben vom Namen meines Helden unterschiede, würde ich unsere Freundschaft so beiläufig beenden, wie man einem unliebsamen Gast in Mollingers Eck das volle Bierglas mit einem Klaps vom Tisch in den Schoß befördert.

      «Was hast du, Papa?»

      In der Küche klapperte Susanne mit Töpfen und Pfannen.

      «Nichts. Ich denke über Winkler nach.»

      «Nicht über Mama?»

      «Nein.»

      «Was denkst du über Winkler nach?»

      «Dass er ein Idiot ist.»

      «Wieso ist die Amö… wieso ist Winkler ein Idiot?»

      «Er klaut Ideen.»

      «Wie kann man Ideen klauen?»

      «Aus meinen Geschichten.»

      «Darf er das denn?», fragte Jens, und auf einmal sehe ich ihn so vor mir, so, wie er damals aussah, sehe ihn hier im Le Maubeuge (Alexandria) deutlich vor mir, stecke die Fotografie in den Geldbeutel, sehe Jens siebenjährig auf dem Etagenbett sitzen. Sein Gesichtsausdruck imitiert die kumpelhaft freundliche Neugierde eines Erwachsenen, auf den Oberschenkeln hat er das mit Star-Wars-Charakteren bedruckte Kopfkissen, nein! Zu spät! Wieder hat der vierjährige Radfahrer den Siebenjährigen aus den Erinnerungen gedrängt. Mit einer Handpantomime bedeute ich dem Kellner, mir noch einen café serré zu bringen, prompt ertönt ein metallisches Schnäuzen, bestimmt geht es ihm gut, denke ich, Susanne wird schon dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlt, bestimmt geht es ihm gut. Ich weiß noch, wie wir zu dritt vor der Weltkarte standen und über den Titicacasee lachten, oder wie entzückt Jens und Susanne waren, als ich ihnen vom Popocatépetl erzählte. Sie glaubten mir nicht, dass es einen Vulkan dieses Namens gibt. «Polarstern, Polykarp, Popanz, Popmusik, da steht er ja, der Popocatépetl! Na, hab ich jetzt recht – oder was?» Ich stecke mir eine Zigarette an, ein schneidend kalter Windstoß treibt mir die Tränen in die Augen, und ich tauche ein in meine Erinnerungen, tauche tief ein, tiefer und treibe davon, rechts neben meinen hochgelegten Füßen das Schlachtfeld auf Jens’ Nachttisch: Kaugummistreifen, Schokokekse, unverständliches Plastikspielzeug aus Überraschungseiern … «Bist du traurig wegen dem Streit?»

      Des Streites, korrigierte ich in Gedanken und sagte: «Nein.»

      Aufgeregt: «Ich hab mit Florian heute auch Streit gehabt.»

      «Ich habe mit Mama nur diskutiert.»

      «Ihr habt geschrien.»

      «Wir haben laut diskutiert.»

      Jens sah mich zweifelnd an.

      «Ehrlich», sagte ich. «Wir haben nur diskutiert.»

      «Was heißt ‹diskutiert›?»

      «Ernst über etwas geredet», sagte ich und schlug das Buch auf, ehe er das Kreuzverhör fortsetzen konnte. Ich weiß nicht, ob ich ein guter Vater war, aber ich weiß, dass ich mir Mühe gegeben habe. Als der scWEINE-essIG ungenießbar zu werden drohte, trug ich Jens noch einige zentrierte tiergedichte vor, die ich in Der Tex(t)aner veröffentlicht hatte. Die arroganten Trottel hatten nie was von mir drucken wollen, mir meine Erzählungen kommentarlos, zerknittert und kaffeefleckig zurückgeschickt, doch kaum war mein lyrisches Magnum Opus in einem angesehenen Verlag erschienen, kam ein aufgeregter Anruf voller verbaler Bücklinge aus München, und nur um zu sehen, wie weit ich gehen konnte, schickte ich ihnen zwanzig Gedichte dieses Kalibers:

      die tiere im huhn

       der bär der bär

       was tun was tun

       so schwer so schwer

       oh huhn du armes armes

       oh bär auch ein armer ein armer

       barmherzigkeit fürs huhn

       und gnade dem bären dem armen

       dem armen bären im huhn

      Sie wurden gedruckt. Alle zwanzig. Wurden genauso kommentarlos gedruckt, wie erste worte, letzte worte gedruckt werden würden. Mein großzügiger Verlag hatte mir bereits das Honorar für beide Gedichte überwiesen. Wenn ein Lyriker pro Gedicht drei Schachteln milde Zigaretten (Stückpreis der Schachtel: 5,45 DM) und ein Bier (Preis pro Glas in Mollingers Eck: liebenswerte 2,50 DM) verdient und noch 15 Pfennig Rest behält (hurra!), wie viel verdient er dann mit zwei Gedichten? Zusatzaufgabe: Überlege! Lohnt sich die Plackerei, wenn heutzutage selbst ein Hilfsarbeiter einen Stundenlohn von 12,00 DM bekommt? Jens sprang aus dem Bett und ging neben mir nieder wie eine Bombe. «Ich muss jetzt fernsehen! Mama hats erlaubt.» Ich öffnete den Mund, um zu fragen, was er sich denn ansehen wolle, doch er kam mir zuvor, rief: «Tiere! Tiere!» und hatte das Zimmer verlassen. Richtige Antwort: Der Lyriker verdient mit zwei Gedichten satte 38 Mark. Als ich einige Minuten später das Wohnzimmer betrat, fand im Zoologischen Garten eine Inventur statt. Eine Dutzendschaft erregter Wissenschaftler und mürrischer Wärter vermaß Kamele und zählte Flamingos, eins, zwei, drei, die Vögel setzten sich in Bewegung, vier-fünf-sechs, begannen zu rennen, siebenacht, Flügelschlagen, neun, nein, ich fang nochmal von vorn an; man katalogisierte Pinguine (sie standen der Sache skeptisch gegenüber, aber einigermaßen still), diskutierte hitzig, zählen wir die Wildenten nun mit oder nicht, und verzeichnete akribisch die Ergebnisse. «Da Schlangen sehr langsam wachsen, ist jeder Zentimeter wichtig.» Man sah, wie eine Gruppe Männer eine oberschenkeldicke Schlange auf dem Boden des Reptilienhauses zu strecken versuchte. «Pro Meter Schlange», tönte der Onkel Fernsehsprecher,


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