Harter Ort. Tim Herden
Oder hatte er sich getäuscht? Hatte er diesen Schrei nur geträumt?
Stefan Rieder drehte den Kopf hin und her. Nein, da war nichts. Wieder starb ein Stück Hoffnung. Denn nun war wieder nur das Glucksen des Wassers zu hören, wie es an der Bootshaut leckte. Als wolle es sich Appetit holen, bevor es das leichte Boot in die Tiefe ziehen würde. Das Paddelboot antwortete mit dem Knarren der hölzernen Spanten. Je tiefer die Wellentäler, umso lauter stöhnte der Bootskörper. Noch hielt er stand.
Um sich herum sah Rieder nur tiefe Dunkelheit. Kein Blinken eines Leuchtfeuers. Keine Bojen. Keine Positionslichter eines Schiffes. Das Meer glitzerte nicht, sondern erschien wie ein wogender dunkelgrauer Sumpf. Hier draußen gab es keine Wellenkämme. Nur Wasser. Beständig bewegte es sich auf und ab. Darüber lag ein grauer Nebelschleier.
Wie lange hatte er geschlafen? Ein paar Minuten? Ein paar Stunden? Rieder wusste es nicht. Auch nicht, wie lange Damp und er jetzt schon über die Ostsee trieben. Er war froh gewesen, als endlich der Schlaf über die Angst gesiegt hatte. Das nährte seinen Wunsch, den Tod nicht zu spüren. Den nassen Tod. Hier auf dem offenen Meer. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, so hatte er den Glauben an eine Rettung längst aufgegeben.
Er rief nach Damp. Doch von hinten kam keine Antwort. Umdrehen konnte er sich nicht. Das verhinderten die straffen Fesseln an seinen Unterarmen. Was war mit Damp? Noch einmal rief er den Namen seines Kollegen. Doch wieder blieb es still. Schlief Damp? War er bewusstlos? Oder vielleicht schon tot? Immerhin hatten sie ihn mehrmals mit einem Elektroschocker traktiert.
Rieder verfiel ins Grübeln. Es war auf alle Fälle seine Schuld gewesen, dass sie jetzt hier auf der Ostsee trieben. Zwischen Hiddensee und dem Nirgendwo. Aber was brachte ihm diese Erkenntnis jetzt noch? Er senkte den Kopf. Sein Nacken schmerzte. Eine lähmende Müdigkeit überkam ihn aufs Neue, aber die Angst vor einem Todeskampf mit dem Wasser hielt ihn noch wach. Er stellte sich vor, wie es mit salzigem Geschmack in seinen Mund spülen würde. In seinen Rachen. Sein Körper würde sich ein letztes Mal aufbäumen. Der letzte Versuch zu überleben. Er schüttelte sich. Es war doch sinnlos, darüber nachzudenken. Es war doch besser, sich durch das monotone Anschlagen der Wellen am Boot und das Rauschen des Wassers betäuben zu lassen. Langsam döste er wieder ein.
Da war es wieder! Untrüglich! Ein Schrei! Ein Rufen! Er öffnete die Augen. Grelles Rot blendete ihn. Was war das? Das Licht des Jenseits? Raste er in diesen letzten Tunnel vom Leben zum Tod? Das wollte er nicht sehen. Er kniff die Augen zusammen.
Stimmen drangen an sein Ohr und waren doch weit weg. Sie klangen dumpf. Sein Kopf schien von Watte umhüllt. Er verstand kein Wort. Wer hatte auch gesagt, dass man im Jenseits seine Sprache sprechen würde? Gleichzeitig begann jemand, an ihm zu zerren. Er schrie auf! So laut hatte er sich noch nie schreien hören! Der Schmerz hatte sich einen Weg durch seinen Körper gebahnt und war durch seine Kehle als Urschrei nach außen gedrungen. Von den Schultern ins Herz. Er versuchte sich zu wehren, wollte seine Arme bewegen. Doch er spürte sie nicht mehr. Er spürte seine Arme nicht mehr. Seine gefesselten Arme fühlten sich taub und schwer an. Ein Griff unter seine Achseln hob seinen Körper an. Er glaubte, seine Schultern würden brechen. Der erneute tiefe Schmerz ließ ihn ohnmächtig werden. Stefan Rieder empfand das als letzte Gnade, die ihm gewährt wurde.
I
Er lehnte den Kopf an die kühle Scheibe. Trotzdem wurde ihm nicht kälter. Er schwitzte in seinem gefütterten Anorak und der dicken Allwetterhose. In dem überfüllten Bus mussten fast dreißig Grad sein. Trotzdem war es wohl die richtige Entscheidung am Morgen gewesen, nicht nach Stralsund, sondern nach Bergen auf Rügen zu fahren. Rechtzeitig hatte er noch erfahren, dass die Silvesterfährlinie zwischen Stralsund und Hiddensee wegen Eisgangs eingestellt worden war. Die Fahrrinne war zugefroren, nachdem es seit Weihnachten fast ununterbrochen geschneit hatte und die Temperaturen beständig unter null gefallen waren. Auch jetzt schneite es wieder. Doch den Schnee sah er nur durchs Fenster, wenn der Bus an einer Straßenlaterne vorbeifuhr und in ihrem Licht der Flockenwirbel zu sehen war. Von Schaprode, dem kleinen Fährort auf Rügen, ging eigentlich immer ein Schiff nach Hiddensee. Dort gab es auch die einzige Fähre, die zum Eisbrechen taugte. Sie hatte zwar schon einige Jährchen auf dem Buckel, aber in den letzten Jahren immer ihren Dienst getan. Auch bei Eis und Schnee. Das Schiff war jetzt das Ziel nicht nur für ihn, sondern auch für zahlreiche Urlauber, die Hiddensee bis zum Abend erreichen wollten, um dort den Jahreswechsel zu feiern. Ein paar Raketen schauten aus seiner Tasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte.
Der Bus hielt in Trent, dem vorletzten Ort vor Schaprode. Er schaute kurz auf, um zu sehen, wer zustieg. Aber es war kein Platz mehr für neue Fahrgäste. Vorn diskutierte lautstark der Busfahrer mit einem Wartenden. Dann rief er ein paarmal in den Bus, ob man nicht zusammenrücken könnte. Doch mehr als ein ärgerliches Raunen und Brummen bekam er nicht zur Antwort. Niemand bewegte sich. Der Fahrer schloss die Tür, der Bus fuhr an und er konnte im Schein des Wartehäuschens einen Mann und eine Frau erkennen, die über ihr Zurückbleiben miteinander in Streit gerieten. Sicher wäre noch Platz für die beiden gewesen, wenn der eine oder andere Fahrgast in Bergen bereit gewesen wäre, seinen Rollkoffer im Laderaum des Busses zu verstauen. Doch keiner wollte Zeit verlieren beim anstehenden Wettlauf von der Bushaltestelle zum Ticketschalter der Fähre. Die Zeit bis zur Abfahrt der Fähre war knapp. Er konnte gelassen sein. Er besaß eines der billigen Insulaner-Tickets für die Einwohner Hiddensees.
Sein dicker Nachbar auf der Sitzbank drückte ihn immer mehr an die Bordwand des Busses. Schmerzhaft stießen nun die Kanten der Langlaufski gegen seine Knie. Er hatte sie samt Schuhwerk und Stöcken kurz entschlossen in Bergen erworben. Bei mittlerweile über fünfzig Zentimetern Schnee auf der Insel würde er damit gut vorankommen und müsste nicht zu Fuß durch den Schnee stapfen. Wenn es weiter so schneite, würde über kurz oder lang der Inselbus seine Fahrten einstellen.
Endlich Schaprode. Die Passagiere wurden kurz durchgeschüttelt, als der Fahrer heftig vor dem Schneeberg bremsen musste, der an der Endhaltestelle aufgetürmt worden war. Er wartete, bis sich die meisten schon durch die enge Bustür geschoben hatten, bevor er sich aus seinem Sitz schälte. Draußen schlug ihm ein eisig kalter Wind entgegen. Er zog sein Basecap aus braunem Cord tiefer ins Gesicht. Nicht ohne Genugtuung marschierte er am Reederei-Gebäude vorbei. Es hatte sich eine lange Schlange gebildet. Wie nicht anders zu erwarten, war nur ein Ticketschalter geöffnet. Die „Vitte“ lag schon da. Ansonsten waren die Schiffe im Hafen Schaprode vom Eis eingeschlossen. Bis es Tauwetter gäbe, würde also der Eisfahrplan gültig sein und nur die „Vitte“ zwischen Hiddensee und Rügen verkehren. Fünfmal am Tag. Sonst gab es selbst im Winter zehn Verbindungen. Er ging über die Gangway, zog seinen Fahrschein aus der Tasche und hielt ihn dem Matrosen hin, der einen Abschnitt abriss. Doch als er weiterwollte, hielt ihn der Mann in der blauen Wattejacke mit der Aufschrift „Reederei Hiddensee“ auf.
„Frachtschein?“, fragte er und zog dabei das Wort mit dem typischen norddeutschen Zungenschlag in die Länge.
„Was für ein Frachtschein?“
Der Mann der Reederei zeigte auf die Langlaufskier und wiederholte: „Frachtschein?“
„Dafür?“, antwortete er verwirrt.
„Genau.“
„Aber die gehören doch zu meinem Gepäck.“
Der Matrose schüttelte den Kopf. „Das ist ein Fortbewegungsmittel. Dafür braucht’s einen Frachtschein.“ Damit war die Diskussion für das Besatzungsmitglied der Fähre offenbar beendet.
Er schob ihn zur Seite und winkte den nächsten Fahrgast heran.
So einfach wollte er sich nicht verdrängen lassen. Er trat wieder nach vorn und versperrte den Weg, was sofort mit einem ärgerlichen Murren der Nachfolgenden beantwortet wurde. Solidarität war hier nicht zu erwarten.
„Und kriege ich den Frachtschein hier bei Ihnen?“, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Sie wurde dann, statt mit Worten, durch zwei Gesten gegeben. Der Matrose deutete einmal mit dem Arm zum Reederei-Gebäude und wedelte ihn dann noch mal kurz mit der Hand zur Seite. In ihm kam das alte Kindergefühl auf, wenn er beim „Mensch ärgere Dich nicht“ mit seiner Figur nur noch einen Schritt