Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach
vermutlich lieb war. Natürlich hatte sie die Sorgen von Jonathan und die Anweisung Melindas verstanden: William LaRouche war zweifellos ein außergewöhnlicher Fahnder, der zudem als Einzelkämpfer schon immer die besten Resultate erzielt hatte. Aber er war derzeit mental nicht in der stabilsten Situation. Penelope hatte sich mit ihrer Rolle als sensibles, wachsames Kontrollauge abgefunden und wollte ihren Job möglichst unauffällig und respektvoll erledigen.
„Als Dad nicht mehr aus Kambodscha zurückkam …“ William stockte und trank einen Schluck Coca-Cola. „Wie gesagt, Dad war verschollen, und ich wollte irgendwie die Fahne hochhalten und bin dann auch zum FBI gegangen.“
Penelope wollte William nicht weiter bedrängen. Sie spürte, wie schwer es ihm fiel, über seine Vergangenheit zu sprechen. Doch William setzte seinen Bericht nach einer kurzen Unterbrechung überraschenderweise fort.
„Vor ziemlich genau dreieinhalb Jahren war ich mit einer FBI-Einheit im Süden Thailands unterwegs. Muslimland. Sie wissen schon. Die Gegend wird seit Jahren von islamistischen Separatisten terrorisiert. In Yala, Narathiwat und vor allem in der Provinz Pattani war seinerzeit die Hölle los. Wir waren auf der Suche nach einem Logistiker der Anschläge vom 11. September, der dort untergetaucht war. Unsere Aufgabe bestand darin, den Burschen zu identifizieren und das Feld für die CIA-Kommandos vorzubereiten, die dann den finalen Zugriff durchführen sollten.“
Die Bedienung brachte Penelope eine weitere Flasche Bier und wendete sich William zu. „One Cola one more?“
„No Cola one more“, lehnte William ab und steckte sich eine Lucky Strike an.
„Zugriffe auf fremden Staatsgebiet. Vermutlich nicht einmal von den lokalen Behörden autorisiert. Das klingt nach verdammt illegalen Einsätzen“, fasste Penelope Williams Bericht sachlich zusammen.
„Kann schon sein“, gab William nachdenklich zurück. „Amerika befindet sich seit den New Yorker Anschlägen im Krieg gegen den internationalen Terrorismus. Wer fragt da noch, ob eine Aktion illegal ist oder nicht?“
William drückte den kurzen Rest einer Zigarette in einen Blechnapf. Dann steckte er sich eine weitere Lucky Strike an und ließ das Nikotin langsam durch seine Lungen strömen. Es tat ihm gut, über diese Zeit zu sprechen, auch wenn ihm bewusst war, dass er sich bis jetzt allenfalls an der Oberfläche bewegt hatte.
„Und ein anderer Tag in diesem Krieg gegen den Terror hat dann mich verändert.“ Vor Williams Augen erschienen wieder die quälenden Bilder jener Aprilnacht: kreischende verschleierte Frauen, Kinder in Panik erstarrt, überall Blut, wimmernde Gestalten mit verzerrten Fratzen, die sich nach Bauchschüssen im Todeskampf krümmten, dumpf einschlagende Geschosse … grünstichige Erinnerungsfetzen … William und seine Männer hatten Helme mit Nachtsichtgeräten getragen.
„Ein Einsatz ging voll daneben. Zero Output. Wir haben die Zielperson nicht erwischt.“
Williams Worte kamen langsam über seine Lippen, mit einer merkwürdigen, anklagenden Betonung. Es war ihm unmöglich, sich von seinen Erinnerungen loszureißen. Als sie die Gebäude der Farm, auf der sich der Terrorist angeblich versteckt hielt, durchkämmt hatten, zählten sie vierundzwanzig Leichen: vierzehn Kinder, neun Frauen und einen alten Mann, den die Kugeln in seinem Rollstuhl durchsiebt hatten.
„William, Sie waren im Krieg, in einem asynchronen Krieg, dem schlimmsten aller Kriege. Der Feind benutzt Unschuldige als Schutzschilder und kämpft nicht mit geöffnetem Visier.“
„Was spielt das heute noch für eine Rolle?“, fragte William. Vor diesem Ereignis hatte er mit Überzeugung hinter den Operationen der amerikanischen Geheimdienste gestanden. Es waren erfolgreiche Aktionen, bei denen Organisatoren, Finanziers und intellektuelle Treiber des Terrors ausgeschaltet wurden – schnell, präzise und mit akzeptablen Begleitschäden. William hatte bei diesen Einsätzen von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Er hatte Befehle ausgeführt, sich verteidigt und dabei, wenn es sich nicht vermeiden ließ, getötet. Aber in jener Nacht war alles anders. Die Traumsequenzen, die ihn seit dieser Nacht verfolgten, ließen ihn bis heute vor Ekel und Scham erstarren.
Allmählich wurde es in der schmalen Gasse ruhiger, die ersten Händler packten ihre Auslagen zusammen oder setzten sich in Gruppen zu einem späten Abendessen auf Plastikmatten nieder. Vor Penelope standen drei leere Flaschen Bier, in Williams Aschenbecher lagen ein Dutzend Zigarettenkippen.
„Sie rauchen zu viel.“
Penelope berührte sanft Williams Unterarm und William leerte mit einem Zug den Rest aus seiner Cola-Dose und wunderte sich, welche Gesprächigkeit die Blicke, der Duft und die Berührungen dieser Frau bei ihm auslösten. Noch einmal musterte er Penelope. Ihre Eltern, das afroamerikanische Ehepaar Owens, mussten sie adoptiert haben. Wie lange mochte das her sein? Die Melodie ihres Ostküstenakzents und die Art, wie Penelope sich gekonnt im Grenzgebiet der ungeschriebenen Gesetze bewegte, die für die ersten privaten Begegnungen zwischen einer Frau und einem Mann in Amerika galten – alles war durch und durch amerikanisch. Und doch, wenn es stimmte, dass die Augen die Seele spiegelten, war sich William sicher, dass auch Penelope schlecht verheilte Narben in sich trug.
„Vier Wochen nach diesem Ereignis habe ich meinen Abschied von der FBI-Familie eingereicht. Jonathan arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon im Justizministerium. Ich weiß, dass er versucht hätte, mich umzustimmen.“
„Hätte er eine Chance gehabt?“
„Nein.“
15
Der Mann schlenderte zufrieden den belebten Sukhumvit Boulevard entlang und zog dabei sein rechtes Bein ein klein wenig nach. Die Sonne brannte schon zu dieser Vormittagsstunde erbarmungslos und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Als er die Haltestelle der Omnibuslinie 22 erreichte, trocknete er sich mit einem Taschentuch die Stirn und seine fettig-verschwitzte Nase, auf der eine wuchtige Hornbrille keinen rechten Halt mehr finden wollte. Der Mann hatte seinen freien Tag genutzt, um wieder einmal seinen Lieblingsbuchladen zu besuchen. Genau genommen war es eine Art Antiquariat, das der Besitzer in einem Hinterhof versteckt hatte. In dem zusammengewürfelten Durcheinander von gedrucktem Schund aus aller Herren Länder konnte man hier mit Geduld und etwas Glück durchaus Raritäten oder Kurioses entdecken. Der Mann hatte heute bemerkenswertes Glück gehabt: Unter Jahre altem Staub hatte er in einem der raumhohen Regale des verwinkelten Labyrinths eine gebundene Erstausgabe von George Orwells Tage in Burma aus dem Jahr 1934 ausgegraben und diese dann für lächerliche zehn US-Dollar erstanden. Er zog die kostbare Neuerwerbung aus der Umhängetasche. Wie war diese Perle der Weltliteratur wohl in diesen verborgenen Winkel Bangkoks gelangt? Die Antwort wäre womöglich noch interessanter als der Inhalt des Werkes, der dem Mann selbstverständlich bekannt war. Er strich nachdenklich über den ausgebleichten Leineneinband. Dabei fiel sein Blick auf seinen linken Ringfinger, an dem das letzte Glied fehlte. Er dachte wehmütig, wie unvollständig er sich seit dem Verlust dieses Teils seines Körpers fühlte, dem nüchtern betrachtet keine unverzichtbare Funktion zukam. Als nach gehöriger Wartezeit in praller Hitze in der Ferne endlich ein Omnibus auftauchte, trat der Mann dicht an die Bordsteinkante, beschattete seine Augen mit der ausgestreckten Hand und entzifferte erleichtert auf der Frontscheibe die Nummer 22.
Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, traf ihn ein Stoß, nicht einmal besonders heftig, aber ohne jede Vorwarnung. Im Grunde war es nur eine gezielte Berührung an der richtigen Stelle, die ihm das Gleichgewicht raubte. Er hatte schließlich die sechzig bereits überschritten und in seinem Leben noch nie Sport getrieben. Seine Beine konnten keinen Gegenhalt bieten und er stolperte auf die Fahrbahn, auf der in diesem Moment der farbenprächtig lackierte Bus der Linie 22 direkt auf ihn zu rollte. Bruchteile einer Sekunde später prallte die Stoßstange gegen sein Becken, er vernahm kreischende Bremsen, wurde zu Boden geschleudert, sah den wolkenlosen Himmel über Bangkok und wusste, dass dies sein Ende war. Reflexartig riss er seinen Rumpf noch einmal in die Höhe. Sein Blick traf den des Busfahrers, der mit weit aufgerissenen Augen nicht verhindern konnte, dass die Front des Fahrzeugs ein weiteres Mal das Opfer traf. Der letzte Gedanke, der durch das Gehirn des Mannes raste, war eine Frage: Warum musste sein Leben auf diese jämmerliche Weise enden? Er hatte doch noch so viele Pläne. Und seinen