Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach
Umschlag mit Fotos zu. „Das ist unser Mann: Larry Mazzini.“
Das Lokal erfreute sich zur Mittagsstunde großen Zulaufs. Außer William war kein weiterer Farang zu entdecken, und weder die hungrigen Gäste, noch die umherschwirrenden Bedienungen schienen sich für ihn und seinen Gesprächspartner zu interessieren. Andy betrachtete eingehend eine Aufnahme, die Mazzini als einen glattrasierten, schneidigen Marineoffizier mit einem akkurat getrimmten Oberlippenbart zeigte. Auf anderen Fotos sah man einen pausbäckigen, zufrieden wirkenden Geschäftsmann in edlem Zwirn und mit locker nach hinten frisierten pechschwarzen Haaren.
„Haben Sie den verkrüppelten Ringfinger bemerkt?“
„Angeblich ein Unfall“, gab William zurück und griff nach einer Farbfotografie. „Das ist die aktuellste Aufnahme, über die wir verfügen.“
Andy konzentrierte sich auf ein weiteres Foto: ein Mann in einem Arztkittel und mit einem hellblonden Mittelscheitel, dessen dunkelbraune Augen auf einem verängstigten Asiaten ruhten. Im Hintergrund war ein Kalender mit burmesischen Schriftzeichen zu erkennen.
„Diesen Mann will ich haben: dreiundsechzig Jahre alt, spricht sechs Sprachen und verfügt nicht nur in Südostasien über ein Netz von Sympathisanten und Informanten. Ein nicht zu unterschätzender, gefährlicher Gegner“, fasste William zusammen. Endlich näherte sich eine Kellnerin ihrem Tisch und legte ohne Begrüßung die Speisekarten auf den Stapel Fotos. Auf ihrer mintgrünen Schürze las William: „Try Flummies – Bangkok’s Best Choice.“ William reichte dem Mädchen die großformatige Menüauswahl zurück und bestellte eine Coca-Cola, Andy entschied sich für einen Café americano.
„Was meinen Sie mit gefährlich?“, wollte Andy wissen, als sich die Bedienung zurückgezogen hatte, und untersuchte dabei eine der Abbildungen mit einer Lupe.
„Mazzini ist ein Spezialist für Foltermethoden. Er entwirft die Szenarien für die Verhöre. Er choreografiert die Hinrichtungen, die Inszenierungen gleichen, um andere Gefangene gefügig zu machen. Angeblich tötet er nur in den seltensten Fällen selbst. Er liebt es zuzuschauen und genießt seine Macht über die Opfer und die Henker.“
Andy nickte und packte die Fotografien wieder in das Kuvert zurück. „Khun William, ich hoffe, ich kann Ihnen in ein paar Tagen erste Resultate liefern. Bangkok ist riesig, aber die Zahl der Farangs, die in Ihrem Fall infrage kommen, ist überschaubar. Ausländische Verbrecher, die in Bangkok untertauchen, wundern sich immer wieder, wie leicht sie zu finden sind, wenn sich die Spürhunde wirklich Mühe geben.“
12
Penelope Owens war mittlerweile allein im Bangkoker Büro von Goldstein & Schulman. Richard McGrowan, der Niederlassungsleiter, war mit einem Rudel Kollegen zu einem Geschäftsessen davongeeilt und auch Nup, die Chefsekretärin, hatte sich in den Feierabend verabschiedet. Es war halb acht abends, als sie die Internetverbindung der amerikanischen Justizministerin anwählte. Melinda Rodriguez und Jonathan Robson hatten in Erwartung ihres Anrufs bereits den großformatigen Bildschirm für Videokonferenzen eingeschaltet und begrüßten Penelope mit Frühstückskaffee und Frischkäse-Bagels.
„Hallo, Schätzchen, du siehst großartig aus. Kommst du in Bangkok zurecht?“ Melinda kannte Penelope schon seit deren Kindertagen, als sie selbst noch Studentin von Andrew J. Owens war, der vor seiner Berufung an den Supreme Court an der juristischen Fakultät in Harvard gelehrt hatte.
„Guten Morgen, Amerika. Hallo, Melinda und Jonathan.“
„Schätzchen, fassen wir uns kurz. Ich habe gleich einen Termin beim Präsidenten, und du hast bestimmt auch noch etwas Nettes vor.“
„Penelope, welchen Eindruck hast du von William La-Rouche?“, begann Jonathan.
„Schwierig zu sagen. Ich kann den Mann nach der ersten Begegnung noch nicht einschätzen“, gab Penelope zu und erinnerte sich dabei, wie herausfordernd der ehemalige FBI-Agent sie immer wieder gemustert hatte.
„William ist der richtige Mann für diese Aufgabe. Ich hätte dir sagen sollen, dass er etwas verschroben ist. Aber ich garantiere für seine Integrität. Du kannst ihm vertrauen“, versicherte Jonathan.
„Penelope, Schätzchen“, mischte sich Melinda wieder ein, „du behältst LaRouche im Auge. Bleib an ihm dran, so schwer wird dir das doch nicht fallen. Der Bursche sieht doch ganz manierlich aus.“ Die Ministerin hob ein Foto von William in die Kamera und zwinkerte Penelope auffordernd zu.
„Melinda!“ Jonathan rollte mit den Augen. „Das ist eine Aufnahme, die LaRouche als Special Agent bei seinem ersten Einsatz in Kalifornien zeigt. Der Mann ist mittlerweile fünfzehn Jahre älter und ein paar Pfund schwerer geworden.“
„Okay, okay. Du klärst das mit Penelope. Wir sehen uns dann später“, entschuldigte sich die Ministerin und verschwand aus dem Bild.
„Melinda sieht in William nur den Agenten“, erklärte Jonathan mit gesenkter Stimme, obwohl seine Chefin bereits das Konferenzzimmer verlassen hatte. „Ich war mit seinem Dad in Vietnam und Kambodscha und kenne Bill schon seit Jahrzehnten. Es ging ihm in letzter Zeit nicht besonders gut.“
„William hat ein paar Andeutungen in diese Richtung gemacht. Bist du sicher, dass er mental stabil genug ist, um sich mit einem Mann wie Mazzini anzulegen?“
Es knackte in der Leitung. Das Bild flackerte für ein paar Sekunden. Dann stand die Verbindung wieder.
„Er wird es schaffen. Bill ist der beste Exposer, den ich kenne. Dieser Auftrag ist für ihn auch eine Chance, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Und entschuldige Melindas Taktlosigkeit. Im Grunde wollte sie dich nur um Folgendes bitten: Wäre es dir möglich, Bill aufzufangen, sollte er wider Erwarten eine dunkle Stunde erwischen?“ Jonathan hielt kurz inne, um dann hinzuzufügen: „Sofern er es zulässt.“
„Ich werde mich um William kümmern, wenn es die Situation erfordert und er es zulässt“, wiederholte Penelope und verabschiedete sich nachdenklich von Jonathan und dem morgendlichen Washington. Auch Jonathan war noch ganz in Gedanken, als er zu Melinda Rodriguez zurückkehrte, die ihn in ihrem Amtszimmer mit dem Zeitplan für den Tag erwartete.
„Du behauptest also, William LaRouche ist ein Genie. Ein Genie, das ein Kindermädchen braucht. Bist du dir sicher, dass Penelope dafür die richtige Wahl ist?“, entfuhr es Melinda.
„Du warst eben unmöglich. Ein Elefant im Porzellanladen geht behutsamer vor. Und zu Penelope: Ich kenne Andrews Tochter nicht so lange, wie du sie kennst. Aber ich bin überzeugt, sie ist sensibler, als du es jemals sein wirst.“ Nur Jonathan durfte so mit der Ministerin sprechen. Er hatte die politische Karriere der ehrgeizigen Tochter eines mexikanischen Viehhirten über Jahre loyal begleitet und unterstützt. Er schätzte ihren unermüdlichen Einsatz für die amerikanischen Minderheiten, die in der Summe betrachtet inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Jonathan bewunderte zudem Melindas Konsequenz, wenn es um die Strafverfolgung von Verbrechern ging. Anders als die meisten ihrer Parteifreunde vertrat sie hier eine Null-Toleranz-Politik und kannte bei der Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten keine Freunde und Genossen, was sie in den eigenen Reihen und in den liberalen Medien zu einer Reizfigur hatte werden lassen.
„Jonathan, du weißt, dass ich die Gewalt autoritärer Eliten, die ihre Völker unterjochen, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfe. Dass Mazzini sich als amerikanischer Staatsbürger diesen Diktaturen als Folterspezialist andient, ist unerträglich. Ich will an diesem Mann ein Exempel statuieren. Die Welt soll sehen, wie die Justiz der Vereinigten Staaten Verbrecher vom Schlage eines Mazzini aus dem Verkehr zieht.“
Jonathan war grundsätzlich der gleichen Meinung, fand aber, dass Melinda mitunter undiplomatisch voranschritt. Statt einer abgestimmten multinationalen Aktion, plante sie im Mazzini-Fall einen Alleingang, um die von ihr geringgeschätzte internationale Gerichtsbarkeit zu umgehen.
„Nimm nur den Fall Mazzini“, hob die Ministerin wie auf Bestellung an. „Der internationale Haftbefehl verstaubt seit Jahren irgendwo in einer Schublade der Bürokratie. Der Strafgerichtshof in