Der Reis und das Blut. Harry Thürk

Der Reis und das Blut - Harry Thürk


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aber lebten 90 Prozent aller Kambodschaner, und die Importe für sie – Lampenbrennstoff, Haushaltsartikel, Werkzeuge und billiger Baumwollstoff – machten genau 4 Prozent aller Einfuhrgüter aus. Das waren die Zahlenverhältnisse, die Herr Khieu Sampan errechnet hatte. Selbst wenn sie nur annähernd stimmten, ließen sie erkennen, was da vor sich ging: Es war eine Deformation des Lebens, die wir Jungen zwar spürten, auf deren tatsächliches Ausmaß uns aber erst Khieu Sampan und Saloth Sar aufmerksam machten. Und sie boten ein Rezept an, um die Sache vom Kopf wieder auf die Beine zu stellen.

      Heute halte ich dieses Rezept für fragwürdig in seiner theoretischen Basis und für barbarisch in der Form, in der es später realisiert wurde, aber man muß verstehen, daß vor allem viele junge Leute nach einem solchen Rezept griffen, nach irgendeinem, begierig, die fatale Wirklichkeit zu verändern, und ohne zunächst zu fragen, worin die Konsequenzen bestehen würden.

      Khieu Sampan bot als Lösung an, zunächst die parasitäre Rolle der Städte abzuschaffen. Der Verkauf der Dorf-Produkte – wie Reis, Kautschuk oder Gemüse – sollte nationalisiert werden, um die Preise, die die Bauern erzielten, erträglicher zu gestalten. Importe sollten auf das beschränkt werden, was die Landbevölkerung brauchte, und die Exporteinnahmen sollten gemeinsam mit den Profiten aus den Landwirtschaftsgütern dazu verwendet werden, die Lage der Bauern zu verbessern. Banken, Energiebetriebe, überhaupt alle Industrieunternehmen seien zu verstaatlichen, die Verwaltungsbürokratie, die geradezu unglaublich korrupt geworden war, und die Angestellten aus dem Sektor der Luxusdienstleistungen sollten in der Landwirtschaft arbeiten, um dort die Produktion zu erhöhen. Pachtzinsen seien abzuschaffen, indem große Arbeitsgemeinschaften auf dem Dorfe gegründet würden.

      Auf dem Lande, unter den einfachen Leuten, den Ärmsten, sollte der Weg entschieden werden, den Kambodscha zu nehmen hatte – nicht mehr im Königshaus oder in der von den Unternehmern bestochenen Bürokratie.

      Unser Herz schlug für diese Ideen. Wir fühlten mit den Armen; das ist wohl das Vorrecht jeder Jugend. Wir waren mit dem, was Herr Khieu Sampan theoretisch ausgearbeitet hatte und was Herr Saloth Sar uns zugänglich machte, total einverstanden. Es traf unseren sozialen Nerv.

      Es traf natürlich auch den Nerv des Königshauses; Khieu Sampan ebenso wie Saloth Sar galten als Kommunisten. Obgleich – genaugenommen stimmte das nicht. Sie waren, wie ich sehr viel später erfuhr, erst seit 1960 eingeschriebene Mitglieder der damaligen KP, die sich im Untergrund befand und von den Polizeiorganen erbittert verfolgt wurde. Sihanouk allerdings schmückte sich mit, wie er es nannte, »legalen Kommunisten« als Parlamentsmitgliedern, um seine Toleranz zu beweisen. Er wollte einige Vorzeigekommunisten haben, sogar als Minister, um Kritik von links abzubauen.

      Nun bezeichnete sich Herr Khieu Sampan beispielsweise selbst stets als Kommunist. Er ließ durchblicken, er gehöre sogar zum Zentralkomitee der Partei. Ich habe nie, auch später nicht, herausfinden können, ob das eigentlich stimmte. Eine illegale Partei wie die damalige KPK läßt gewiß keine Mitgliederlisten herumliegen; es wären Todesurteile, wenn die Polizei sie aufspürte. Wie dem auch gewesen sein mag, wir Jungen hatten das Gefühl, es tatsächlich mit Kommunisten zu tun zu haben, selbst wenn Sihanouk es vorzog, sie zeitweilig nicht anzutasten. Für uns hatten die Kommunisten aus der Zeit der Kämpfe gegen die Franzosen einen guten Namen. Sie verkörperten soziale Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit.

      Khieu Sampan gab damals, neben seiner Lehrtätigkeit, in Phnom Penh eine Wochenzeitung in französischer Sprache heraus, die im wesentlichen der Propagierung seiner Ideen diente, wenngleich er dabei recht vorsichtig vorging und jeden direkten Konflikt vermied. Trotzdem wollte Sihanouk ihn wohl in der Öffentlichkeit als politischen Gegner abwerten. Im Herbst 1960 erschien eine Gruppe Schläger vor Khieu Sampans Haus. Dieser hielt gerade Mittagsruhe. Die Kerle zerrten den nur mit einer Unterhose Bekleideten auf die Straße und ließen ihn von einem Zeitungsreporter fotografieren. Ein Bild der Lächerlichkeit sollte er abgeben. Es hatte nicht den erwarteten Erfolg.

      Zwei Jahre später änderte Sihanouk seine Taktik. Neuwahlen standen an. Die KPK war offiziell verboten. Sihanouk nahm Khieu Sampan und zwei seiner Gesinnungsfreunde, Hu Nim und Hou Yon, die beide an der juristischen Fakultät der Universität Phnom Penh lehrten, einfach in seine Sangkum-Partei und deren Wahlliste auf, mit der Begründung, er wolle Linken wie ihnen großmütig eine Chance sichern, weil sie selbst ja keiner Partei angehörten, die Listen aufstellen durfte. Sie wurden prompt gewählt, und so kam es dazu, daß sie alle drei für ein knappes Jahr Ministerposten in Sihanouks Regierung bekleideten, bis er sie wieder hinauswarf.

      Herr Khieu Sampan wurde dann, 1966, nochmals auf die gleiche Weise zum Abgeordneten gewählt. Sihanouk wollte ihn wohl neutralisieren. Aber um diese Zeit hatte sich die revolutionäre Stimmung im Lande bereits so stark entwickelt, daß es in Battambang zu Aufständen kam. Da wurde auch Khieu Sampan endgültig von Sihanouk abgesetzt und zum Aufrührer und Staatsfeind erklärt.

      Bevor ich über die Aufstände spreche, will ich versuchen, Ihnen ein wenig Aufschluß über das eigenartige Verhältnis Sihanouks zu den Amerikanern zu geben, weil das in unserer ganzen neueren Geschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Einzelheiten darüber erfuhr ich von Saloth Sar in unserem Zirkel.

      Zunächst muß man wissen, daß unser Monseigneur Papa, der Prinz aus der Norodom-Dynastie, ein Mann mit hochentwickeltem Geltungsbedürfnis war. Er rieb sich an Beleidigungen, die von den Amerikanern ausgingen und die ihn zu höchst eigenwilligen Reaktionen trieben.

      Die Angelegenheit reicht weit zurück. Ich kenne sie aus den Gesprächen der Älteren, die ich später hörte. 1952, als die Franzosen Kambodscha noch ziemlich umfassend beherrschten, hatte der junge Prinz, zweifellos von nationalem Ehrgeiz getrieben, aber wohl auch von der Absicht bewegt, die Macht zu übernehmen, eine Art Weltreise unternommen, um in vielen Ländern für die Unabhängigkeit Kambodschas zu werben.

      Die Reise führte ihn auch nach Washington, wo er nicht gerade wie ein Prinz behandelt wurde, eher wie ein »Eingeborener aus einem wilden Land«. Er wurde vom damaligen Außenminister John Foster Dulles empfangen, und nachdem er seinen Wunsch auf Unabhängigkeit Kambodschas vorgebracht hatte, schüttelte der große weiße Mann nur den Kopf und erklärte dem Prinzen, er solle doch froh sein, daß Kambodscha eine französische Kolonie voller französischer Soldaten wäre, das sei der beste Schutz gegen den aggressiven Kommunismus.

      Nun war Sihanouk ja keinesfalls ein Kommunistenfreund, obwohl die kommunistische Widerstandsbewegung zunächst dasselbe Anliegen verfolgte wie er, nämlich die Befreiung vom Kolonialstatus. Aber Sihanouk war in Sachen seines Landes erfahren genug, Herrn Dulles darauf hinzuweisen, daß dessen Denkrichtung nicht stimmte: Die weitere Unterdrückung der Selbständigkeitsbestrebungen in Kambodscha durch die Franzosen würde im Gegenteil die Sympathien für die Kommunisten noch erhöhen. Dulles lachte ihn aus. Das kränkte Sihanouk so sehr, daß er es nie vergessen konnte.

      Nach allem, was ich über die Sache erfahren habe, war das so etwas wie ein Anfangskonflikt. Ich hatte später, als ich im Dschungel lebte, worüber ich noch sprechen werde, viel Zeit, und Geschichte wurde ein wenig zu meiner bevorzugten Freizeitbeschäftigung, sofern ich Freizeit hatte. Je irrealer das Leben um mich herum wurde, je mehr Rätsel es mir aufgab, mein Gewissen plagte, mir Fragen stellte, desto mehr war ich interessiert, Wahrheiten herauszufinden, die mir helfen konnten, mich in dem Irrgarten zurechtzufinden, in den ich geraten war.

      Die Politik der Amerikaner uns gegenüber war in mancherlei Hinsicht für die Entwicklung Kambodschas mitentscheidend. Es kam nach 1954, als die Franzosen aus Indochina abzogen, zu einer weiteren Kontroverse Sihanouks, des nunmehrigen Staatschefs, mit den USA. Diese bestanden darauf, daß Kambodscha der SEATO beitreten sollte, diesem antikommunistischen Pakt. Sihanouk lehnte das ab. Er stellte zu den asiatischen kommunistischen Staaten bessere Beziehungen her. Aber gleichzeitig bemühte er sich auch um Ausgleich mit den Amerikanern; er erbat bei ihnen sogar Hilfe in Form von Krediten und auf militärischem Gebiet.

      Er bekam sie ab 1955. Herr Khieu Sampan errechnete, daß 30 Prozent unseres Militärbudgets von der US-Hilfe gedeckt wurden. Man sah es unserer Armee übrigens an. Uniformen, Helme, Handfeuerwaffen, Geschütze, Panzer, Lastwagen, das alles stammte aus amerikanischen Beständen. Lediglich bei den Luftstreitkräften wurden alte französische Typen benutzt, sonst überwog US-Material.


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