Andere Häfen. Christopher Ecker
Schinder brachte sie zum Anger. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sich die Eltern beim Tee. „Sie wirkt noch verworrener als sonst.“ Und Tag für Tag schlich sich das kleine Märchen von nun an zum Fenster und allmählich begann es sich zu verändern. Erst wuchs der schönen Prinzessin eine lange Nase, dann wurde sie dick und unförmig und schließlich war sie so hässlich, dass keiner sie mehr heiraten wollte. Nur ein entfernter Verwandter machte ihr noch den Hof, denn er war habgierig und wollte die Mitgift. Nach vielen weiteren Besuchen in dem verbotenen Raum mit dem Fenster zur Straße wurde die Prinzessin jähzornig und trat nach dem greisen Freier, der vor ihr kniete, und hatte nur Augen für den bösen Zauberer, der mit listigem Frettchenblick hinter dem Thron des Vaters hervorspähte. Und Tag für Tag schaute das kleine Märchen aus dem Fenster und schließlich wurde die Prinzessin sehr krank und lief lauthals Lieder singend, deren Texte allen Angst machten, durch das baufällige Schloss, in dem allerorten der Schimmel wucherte. Den Eltern blieb die Veränderung nicht unverborgen. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sie sich beim Tee. „Findest du nicht auch, dass sie immer weniger wie ein echtes Märchen aussieht?“ Doch als die Eltern das kleine Märchen zur Rede stellen wollten, floh es mit dem Schlüssel die Treppe hinauf und sprang, als man an die Tür des verbotenen Raums klopfte, mit einem Satz hinunter auf die Straße, um nicht ausgeschimpft zu werden. Beim Sprung brach es sich beide Beine. Zum Glück kam ein betrunkener Uhrmacher vorbei, nahm es mit zu sich nach Hause, schiente notdürftig die Schenkel und kettete es im Keller an. Hier musste es Tag und Nacht schwerste Arbeiten verrichten: Kartoffeln schälen, Kessel polieren und noch vieles andere, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Längst hatte das kleine Märchen keine erkennbare Handlung mehr. Eine fette, böse Frau (wohl die ehemalige schöne Prinzessin) prügelt sich mit einem fetten, bösen Mann (wohl der ehemalige tapfere Prinz) um eine gestohlene Rübe, ein dunkler Zauberer reitet auf seinem Mantel durch die kochende Zeit, ein Schloss oder eine Scheune stürzt ein, Blut strömt statt Wasser in den Flüssen des Reiches – und Kartoffeln wurden geschält und Kessel wurden poliert und noch vieles andere wurde getan, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Fast jeden zweiten Abend war der Uhrmacher so betrunken, dass er zügellos auf das Märchen einprügelte und es wegen seiner schief und krumm zusammengewachsenen Beine verhöhnte, auf denen es sich kaum zum Wassereimer schleppen konnte. Und so vergingen die Jahre. Längst hatten die Eltern das Märchen vergessen – und noch schlimmer: Keiner wusste, dass es angekettet im Keller des Uhrmachers sein kärgliches Dasein fristete. Und weitere Jahre vergingen. Als der Uhrmacher sich endlich totgesoffen hatte, blieb das Märchen weiterhin angekettet im Keller und wurde von Tag zu Tag dünner und dünner. „Wäre ich doch bloß nicht aus dem Fenster gesprungen“, sagte es mit schwacher Stimme und rang die Hände, „dann wäre ich heute ein schönes Märchen und man würde mich erzählen, aber nun kennt mich keiner und es ist mein Schicksal, hier in diesem Kellerloch elendigst zu verhungern und zu verdursten. Ach, hätte ich doch nie aus dem Fenster geschaut!“ Kaum hatte es das gesagt, kam der Tod und breitete mit einem Lächeln seinen Mantel aus. Und so starb das Märchen. Aber hätte es jemand gelesen oder erzählt bekommen, es wäre ohnehin nicht mehr verstanden worden.
VOM FAGARÖM
Zu einem Zeitpunkt meines Lebens, als ich die Vergeblichkeit allen Strebens erkannt zu haben glaubte und mir redliche Mühe gab, mich mit diesem Gedanken anzufreunden, wodurch, ich verhehle es nicht, eine durchaus wohltuende Ruhe über mich kam, widerfuhr mir etwas, das, obwohl es die Vergeblichkeit, ja Nutzlosigkeit allen Strebens mehr als nur bestätigte, widerfuhr mir also etwas, das mich, meine Nachbarn und einige entfernte Bekannte, mit denen ich damals unregelmäßig zu korrespondieren pflegte, bis heute in eine dem Irrsinn nahe aufgepeitschte Unruhe stürzte. Dass die Wahrnehmung der Dinge durch unsere Sinne rein gar nichts mit den Dingen selbst zu tun hat, wie sie wirklich sind, ist eine Binsenweisheit, doch vergisst sie ein jeder allzu gerne, um ein betuliches, fast vergnügtes Leben in einer Dingwelt zu führen, die dadurch in eine Asservatenkammer verwandelt wird, inmitten der wir stehen und mal diesen, mal jenen Gegenstand aus den Regalen nehmen, um ihn prüfend zu begutachten. Das wusste ich und hatte mich, wie gesagt, damit (wie auch mit manchem anderen, über das zu sprechen hier nicht der rechte Ort ist) abgefunden, doch da stieß ich an einem sonnigen Märztag auf das Fagaröm und von nun an gab es einen Punkt in der Welt, der fest war, ein Ding, von dem ich guten Gewissens sagen konnte: Dieses Ding ist wirklich so, wie ich es mit meinen Sinnen wahrnehme. So und nicht anders! Ein Nebel, der entfernt einem vor vielen Jahren verstorbenen Studienfreund glich, offenbarte mir besagtes Objekt, zeigte es mir jedoch nur kurz und verschwand damit, nicht ohne einen erdigen Geruch nach Roter Bete im Hörsaal zurückzulassen, wo ich gerade über Raumzeit oder, ich bin mir nicht sicher, Zeitraum las. Im Grunde genommen verabscheue ich Banalitäten, und diese hastig hingeworfene Notiz vor meiner Abreise ähnelt verdächtig den Banalitäten, die ich normalerweise verabscheue, und wahrscheinlich hat sich, es ist eine gottverdammte, grässliche, ohne Rezept heillos zusammengerührte Scheiße dieses Leben, hat sich, verfluchte Kacke, hat sich also in meinem verfickten Leben niemals etwas geändert, nichts ändert sich jemals, auch wenn mir dieser, wie mir nun auffällt, grenzenlos blöde aussehende Gegenstand mitten in einer mitreißenden Vorlesung von einem meiner dümmsten und zudem seit Jahren mausetoten Studienkollegen dergestalt präsentiert wurde, als sollte ich vor diesem idiotischen Götzen aus einem Material, das nicht einmal irdisch war, jubilierend auf die Knie fallen. Ich breche nun wohl besser ab und gebe, um mich nicht gänzlich hirnverbrannt zu fühlen, an dieser Stelle ein Gespräch wieder, das ich vor kurzem mit dem Dekan führte, als wir uns in seinem Büro den einen oder anderen Cognac zu Gemüte führten.
„Nichtstun“, sagte er, „ist die schlimmste Form der Rache.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte ich.
„Nichts zu tun, zeigt mehr als alle denkbaren Taten die Geringschätzung, die man für jemanden empfindet, der einen einst gequält oder erniedrigt hat.“
„Finden Sie?“
„Nichtstun sagt: Du bist es nicht wert, Opfer meiner Rache zu sein. Ich hasse und verachte dich so sehr, dass ich nichts tun werde.“
„Aber dennoch wünschen Sie, dass derjenige, an dem Sie sich rächen wollen, weiß, dass Sie sich nicht rächen, um ihn dadurch zu strafen.“
„Das ist richtig.“
„Sehen Sie den Denkfehler?“
„Wir befinden uns nicht in einem Seminar über Logik, mein Bester.“
„Da mögen Sie recht haben, aber ich finde, dass es ein gutes Gefühl ist, wenn die, an denen man sich rächen will, wissen, wer sich an ihnen rächt.“
So weit, so gut. Aber, und jetzt merkt fein auf, warum ich mich an Euch räche, wisst Ihr nicht, ahnt Ihr nicht und werdet es nie erfahren.
AUF GLÜHENDEN KOHLEN
Natürlich hatten es mir meine Eltern verboten. Natürlich machte ich es trotzdem. Jürgens Eltern hatten es ihm auch verboten, aber auch ihn scherte das nicht die Bohne: Wir waren beste Freunde, saßen in der Grundschule nebeneinander und konnten uns nichts Aufregenderes vorstellen, als die Schlangenhöhle zu erkunden. In Schwarzenacker, dem Dörfchen, wo wir beide wohnten, befand sich im Wald hinter dem Römermuseum ein verzweigtes, sich über mehrere Ebenen erstreckendes Höhlensystem – die Schlangenhöhle. Hier hatten bereits die Römer den rötlichen Buntsandstein gebrochen, dessen Staub allen Besuchern Schuhe und Kleider färbte, verräterisch färbte, denn die Zugänge waren aus Sicherheitsgründen zugemauert. Beim Spielen im Wald hatten wir jedoch ein Loch im Hang entdeckt, kaum größer als ein Dachsgang und doch ein Schlupfloch, das uns mageren Zweitklässlern Einlass in das labyrinthische System gewährte. Da gab es Tunnel, kapellenartige Räume, Teiche, da gab es Kriechgänge, in denen man sich flach auf den Bauch pressen musste, und Röhren gab es da, die noch schmaler waren und hinab in tiefere Etagen führten, wo die Luft nach faulen Eiern roch. Eines Samstags kam Jürgen, dessen Eltern sich nicht sonderlich um ihn kümmerten, nach der Schule zu mir nach Hause, aß mit uns zu Mittag und danach zog es uns nach draußen. „Hast du die Kerzen?“, fragte ich. – „Klar!“, sagte Jürgen. – „Hast du die Streichhölzer?“,