Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
ihn in die Klinik. Dort wurde er tatsächlich fündig. Natascha saß an ihrem Schreibtisch und studierte einen Befund. Als er eintrat, hob sie den Kopf.
»Natascha, hier bist du.« Fast schüchtern trat Oliver ein und ging unter ihren undefinierbaren Blicken zum Tisch. »Ich hab zu Hause auf dich gewartet.« Seine Kehle war trocken und seine Stimme heiser. Nie zuvor in seinem Leben war er so aufgeregt gewesen wie jetzt. Auch nicht heute Mittag, als er vor seiner eigenen Hochzeit geflohen war. Inzwischen verstand er sich selbst nicht mehr.
Natascha zögerte kurz. Dann beugte sie sich wieder über die Unterlagen.
»Ich hab die Nachtschicht vom Kollegen Cornelius übernommen«, erklärte sie beiläufig und so beherrscht, dass Oliver fast verrückt wurde.
»Natti, ich … ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten«, erklärte er rau.
Natascha tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Olivers Knie zitterten vor Aufregung, und er zog sich einen Stuhl heran.
»Es tut mir unendlich leid, was ich dir angetan habe«, fuhr er zögernd fort. »Das alles ist schwer zu verstehen, auch für mich, und ich kann dir nicht wirklich erklären, was passiert ist. Mein größter Wunsch ist, dass du meine Frau wirst. Ich liebe dich über alles. Vielleicht zu sehr«, erinnerte er sich an Tatjanas Tipp. »Plötzlich hatte ich Angst, dir nicht gerecht werden zu können, zu wenig für dich zu sein. Ach, ich verstehe nicht, was passiert ist!«, gab er schließlich seufzend auf und ließ den Kopf deprimiert in die Hände sinken.
Noch immer sagte Natascha kein Wort. Inzwischen hatte sie sich im Stuhl zurückgelehnt und musterte Oliver eine Weile nachdenklich.
Um diese Uhrzeit war es ruhig in der Klinik. Kein Geräusch drang von draußen ins Zimmer.
»Ich weiß schon, was passiert ist«, brach sie schließlich das tiefe Schweigen. »Und ehrlich gesagt überrascht es mich nicht.«
Erstaunt blickte Oliver auf.
»Wie meinst du das?«
Natascha seufzte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer kunstvollen Hochzeitsfrisur gelöst hatte.
»Na ja, wir haben so lange gebraucht, um überhaupt ins Standesamt zu kommen. Immer kam was anderes dazwischen. Ständig ist uns ein anderer Grund eingefallen, warum es nicht geht.« Sie seufzte und betrachtete mit waidwundem Blick den Mann, den sie hatte heiraten wollen. Dass Oliver unverschämt gut aussah in dem zerknitterten Hemd, mit den Bartstoppeln und dem bitteren Zug um den Mund, machte es nicht besser. »Das kann eigentlich nur eines heißen: Es soll einfach nicht sein.«
Mit diesem einen kleinen Satz zerstörte sie den letzten Rest an Hoffnung, den Oliver noch gehabt hatte.
»Was meinst du damit?«, fragt er heiser, obwohl der die Antwort schon kannte.
»Du und ich, wir sollen einfach nicht heiraten.«
Olivers Herz schlug so hart in seiner Brust, dass er meinte, auch Natascha müsste es fühlen oder wenigstens hören.
»Willst du dich von mir trennen?«, kam er nicht umhin, die alles entscheidende Frage zu stellen.
Natascha antwortete nicht sofort. Sie sah Oliver auch nicht an, sondern betrachtete sinnend den Brautstrauß, der in einer Vase auf ihrem Schreibtisch stand. Einem ersten Impuls folgend hatte sie ihn zuerst wutentbrannt weggeworfen. Dann aber hatten ihr die Blumen leid getan. Sie konnten schließlich nichts dafür, dass der Plan missglückt war, und sie hatte sie mit in die Klinik genommen.
Endlich hob Natascha den Kopf und sah Oliver fest in die Augen.
»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.«
Doch Oliver war nicht bereit, kampflos aufzugeben.
»Ich liebe dich, Natascha. Bitte gib uns noch eine Chance!«, bat er innig.
Doch seine Angebetete schüttelte nur langsam den Kopf.
»Wir hatten unsere Chance. Und jetzt musst du mich bitte entschuldigen. Ich muss arbeiten.« Sie klang so entschieden, dass Oliver in diesem Augenblick keine andere Wahl hatte, als ihrem Wunsch Folge zu leisten. Wortlos stand er auf, ging mit schweren Schritten durch den Raum und zog schließlich die Tür hinter sich zu. Natascha war kaum allein, als sie sich zurücklehnte und aufschluchzte. Der letzte Rest an Selbstbeherrschung war aufgebraucht, und sie weinte bittere Tränen um ihren verlorenen Traum vom Glück.
*
Tatjana hatte die Abwesenheit ihres besten Freundes genutzt, um schnell zu Frau Bärwald in die Bäckerei zu laufen, in der sie arbeitete und etwas Geld neben dem Studium verdiente. Inzwischen verband sie eine gute Freundschaft mit der beleibten Bäckersfrau, und als sie mit einer Tüte voller duftender Leckereien zurückkam, war sie schon wieder guter Dinge. Bis sie den zerknirschten Oliver auf der Straße vor dem Studentenwohnheim entdeckte.
»O je, das ist nicht gut gelaufen, oder?«, fragte sie in bangem Erwarten.
Oliver schüttelte den Kopf.
»Natascha weiß noch nicht, ob sie sich von mir trennen wird.«
Blankes Entsetzen sprach aus Tatjanas großen blauen Augen.
»Ach, Oli, das tut mir so leid.« Spontan fiel sie ihrem Freund um den Hals und umarmte ihn innig. In diesem Moment musste Tatjana wieder an Danny denken, an ihren Streit und daran, dass er es eigentlich sein sollte, den sie umarmte. Und doch war es Oliver, der in den Genuss ihrer Nähe und Wärme kam. Wie ein Ertrinkender schlang er seine Arme um ihren schlanken Rücken und erwiderte ihre Umarmung, als sie eine scharfe Stimme auseinander fahren ließ.
»So ist das also!«, fauchte Danny wütend und schleuderte den Strauß Blumen auf den Boden, den er gekauft hatte, um seine Freundin milde zu stimmen. »Kaum habe ich mal keine Zeit für dich, schon tröstest du dich mit einem anderen.«
»Hey, Moment mal!«, rief Oliver und baute sich schützend vor Tatjana auf.
Doch das hatte eine Frau wie sie nicht nötig. Energisch schob sie ihren besten Freund zur Seite und funkelte Danny wütend an.
»Sag mal, spinnst du eigentlich?«, fragte sie ihn kühl und so beherrscht, dass sich Danny fühlte, als hätte sie ihm einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt. »Tauchst hier einfach so aus dem Nichts auf und machst mir eine Szene? Dabei bin ich eigentlich diejenige, die sauer sein müsste. Immerhin hast du mich neulich versetzt. Schon vergessen?«
»Das ist noch lange kein Grund, auf offener Straße mit einem anderen rumzumachen!«, rief Danny blind vor Eifersucht und Enttäuschung.
»Und warum nicht? Du hast ja keine Zeit mehr für mich, versetzt mich wortlos und hältst es noch nicht mal mehr für nötig, dich zu entschuldigen.«
»Wie denn? Du gehst ja nicht mehr an dein Handy!«, verteidigte sich Danny in wütender Verzweiflung.
Tatjana stand da und starrte ihren Freund mit zornfunkelnden Augen an. »Du ja auch nicht«, konterte sie erbarmungslos. »Aber wenn du schon mal hier bist, kannst du mir ja erklären, wo du die ganze Zeit gesteckt hast.«
»Das kann ich dir nicht sagen.« Solange Marika noch keine neuen Papiere und kein Visum hatte, fühlte Danny sich an sein Versprechen gebunden. Doch das konnte er Tatjana unmöglich erklären. Schon gar nicht hier, mitten auf der Straße. Tatjanas apartes Gesicht gefror zu Eis.
»Ach, das ist ja interessant«, erwiderte sie mit einem süffisanten Lächeln. »Und was willst du dann überhaupt hier?«
Danny dachte blitzschnell nach. Wenn er jetzt einen Fehler machte, war alles aus. Das durfte auf keinen Fall passieren. So griff er kurzentschlossen zu einer List. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht, und er presste beide Hände aufs Herz. In Zeitlupe sank er vor seiner zu Tode erschrockenen Freundin auf die Knie.
»Medizin!«, röchelte er. »Ich brauche Medizin.«
Tatjana dachte nicht lange darüber nach, was zu tun war. Sie kniete neben ihm nieder und nahm seinen Kopf in ihre Hände.
»Welche