KHAOS. Lin Rina
Wie seltsam.
»Ich heiße Daya«, sagte ich ganz unvermittelt und wusste selbst nicht, warum ich so plötzlich den Drang verspürte, ihm meinen Namen mitzuteilen.
Ich hob den Blick und sah in die Augen, die mich die ganze Zeit über beobachteten.
Fragend hob ich eine Augenbraue und wartete, ob er mir seinen Namen ebenfalls verraten würde. Er sagte jedoch nichts und ich fühlte mich auf einmal dumm, ihn so bedrängt zu haben.
Schnell senkte ich den Blick wieder und fragte mich, was ich eigentlich hatte bezwecken wollen. Gerade hatte ich doch schon festgestellt, dass ich es nicht wert war, von ihm beachtet zu werden.
Ich sah nach, ob der Zugang des Schlauches frei war und musste mich dann regelrecht überwinden, seinen Arm wieder loszulassen. Seine Haut war warm und glatt, Muskeln und Sehnen traten deutlich hervor und verführten dazu, ihnen mit den Fingerspitzen zu folgen.
Ich blinzelte die völlig irrationalen Gedanken beiseite und öffnete den Schlauch wieder.
Möglichst routiniert wirkend, drehte ich mich zu dem Blonden um und kontrollierte seinen Zugang vorsichtshalber auch noch mal. Er sah mich ebenfalls dabei an, warf aber immer wieder seinem Gegenüber Blicke zu. Ihren Seelen konnte ich entnehmen, dass sie froh waren, einander wiederzusehen, so als wenn sie sich nicht sicher gewesen waren, dass dieser Tag jemals kommen würde. Es fühlte ich richtig familiär an, wie Brüder, die füreinander durchs Feuer gingen oder auch schon gegangen waren.
Eine Träne stahl sich aus meinem Auge und ich blinzelte sie schnell weg. Ich hatte solche Gefühle schon so lange nicht mehr gespürt. Jetzt fehlte mir meine Mutter mehr denn je und auch die Geborgenheit einer Familie. Doch ich würde auch in Zukunft wenig Aussicht darauf haben.
Es gab Situationen, da konnte ich das akzeptieren, damit abschließen, dass mein Leben bald und lieblos enden würde.
Aber Momente wie dieser brachten mich dazu, meinen so logisch gefassten Entschluss anzuzweifeln und die Sehnsucht in mir zum Vorschein zu bringen.
Ich war nicht gerne allein. Aber ich zog die Einsamkeit der Gesellschaft von solchen Männern vor, wie es sie hier auf diesem Planeten gab.
Apropos.
Ich spürte Seelen näher kommen und schreckte zusammen, als ich erkannte, dass es sich um Boz und Vento handelte.
»Oh scheiße!«, entfuhr es mir leise, während ich mich hektisch umsah. Wieso hatte ich nur damit gerechnet, dass er sich nach seiner Ankündigung auch erst in drei Tagen blicken lassen würde? Und was wollte er denn so früh am Morgen von mir?
Ich wandte mich an die beiden Soldaten. »Äm, okay. Legt euch hin, schließt die Augen und tut so, als wärt ihr nicht bei Bewusstsein«, wies ich sie an und sah noch einmal zur Tür, die sich in den nächsten paar Sekunden öffnen würde. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit für Erklärungen, doch als ich mich zurückdrehte und zu den Männern sah, lagen sie entspannt auf ihren Liegen, die Augen geschlossen und sogar ihre Atmung war flach und gleichmäßig.
Einen Moment war ich sogar unsicher, ob sie wirklich bereits erwacht waren oder ich mir das nur eingebildet hatte.
Dann schob jemand mit Wucht die Tür auf und ich schreckte herum.
»Boz«, brachte ich kleinlaut zustande und senkte sofort den Blick. »Was machst du so früh …«
»Du hast es geschafft!«, unterbrach er mich mit einem triumphierenden Grinsen, als er die Männer auf den Liegen entdeckte, und trat zu ihnen heran, um sie zu betrachten. »Vento, hol ein paar Männer aus den Betten! Wir brauchen Freiwillige, die uns ein paar fette Sumpfsauger aus den Höhlen holen, um ihrer Brut ein neues Zuhause zu geben«, wandte er sich an den Mann in der Tür und dieser wollte schon loseilen, als ich dazwischenging.
»Nein!«, rief ich, lauter als ich es gewöhnlich tat, und zuckte vor der Kraft meiner eigenen Stimme zusammen.
Vento hielt inne und starrte mich an. Boz’ Blicke durchlöcherten mich mit Ärger und einer Spur zu viel Misstrauen.
In Ordnung, jetzt musste ich meine Ausrede nur gut rüberbringen. »Es ist noch zu früh«, versuchte ich es in einem beschwichtigenden Ton. »Die Männer sind noch nicht wiederhergestellt«, erklärte ich weiter und trat näher an die Liegen. Meine Finger griffen nach dem Schlauch, über den die Kochsalzlösung in die Adern des Mannes floss, dessen Erscheinung mich völlig aus dem Konzept brachte. Auch jetzt spürte ich seine Seele so präsent neben mir, als würde seine Aufmerksamkeit nur mir gelten.
»Wenn wir ihnen die Sauger jetzt schon ansetzen, wird das einen so großen Schaden anrichten, dass sie niemals aus dem Koma erwachen werden.« Ich hoffte inständig, dass ich glaubwürdig rüberkam. Meine Stimme hatte bei all den Lügen leicht gezittert. Aber ich hatte noch nie den robustesten Eindruck gemacht. Vielleicht würden sie es einfach als Schlafmangel, kindliche Schüchternheit oder großen Respekt abtun.
Boz war nicht zufrieden. Sein Grinsen hatte sich gänzlich aufgelöst, sein Inneres war verstimmt. »Und wann wäre es deiner Meinung nach so weit?«, wollte er wissen und Spott verzerrte seine Stimme, als wäre meine Sicht der Dinge nicht entscheidend für seine Handlungsfreiheit. Schließlich musste er vor seinen Männern zeigen, dass er hier die Befehle gab, und nicht ich.
»Zwei Tage«, behauptete ich dermaßen überzeugt, dass ich es beinahe selbst geglaubt hätte, und bereute dennoch sofort, nicht drei gesagt zu haben. Doch vielleicht wäre das dann doch zu lang gewesen für Boz’ dünnen Geduldsfaden. Und ich wollte auf keinen Fall, dass dieser riss.
Aber würde ich mir in so kurzer Zeit eine gute Strategie ausgedacht haben, um das Dilemma, in dem ich und die Menschen aus den Kryokapseln steckten, zu beseitigen? Ich musste wohl.
»Gut. Ich gebe dir die Zeit. Aber sei dir sicher, dass ich in zwei Tagen wieder hier stehen werde und wenn du dann nicht ein paar willenlose Soldaten für mich hast, dann werde ich deinem sinnlosen kurzen Leben ein Ende setzen!«, drohte er mir. Mit jedem Wort wurde seine Seele finsterer.
Ich zuckte zusammen und klammerte mich mit der Hand an das Gestell der Liege, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Boz war kein Mann von leeren Worten. Er hatte bisher alles, was er angedroht hatte, auch wahr gemacht.
Doch ich konnte nicht verstehen, wieso ihn die Aussicht, diese genetisch hochgezüchteten Männer nicht als seine Soldaten einzusetzen, so rasend machte, dass er mir mit dem Tod drohte. Das hatte er früher nicht getan. Er musste sich Großes davon versprechen, diese Kampfmaschinen auf seiner Seite zu haben.
Zittrig atmete ich ein, als sich hinter Boz und Vento die Tür schloss, und strich mir angespannt eine Locke aus der Stirn.
»Du hast ihn angelogen«, kam es von neben mir und ich zuckte zusammen. Ruckartig zog ich die Hand vom Gestell der Liege weg, drehte mich dem Mann hinter mir halb zu und biss mir auf die Unterlippe. Er lag noch immer, sah mich durch halb geschlossene Augen an, der Blick kritisch, abschätzig. »Warum?«, verlangte er zu wissen und ich wusste schon jetzt, dass ich seinen Augen wahrscheinlich niemals etwas abschlagen könnte.
»Damit er euch nicht umbringt«, antwortete ich ihm also wahrheitsgetreu und wandte mich verlegen ab.
Ich sah die Kiste mit dem Verbandszeug und anderen Dingen, die ich immer noch nicht wieder in Ordnung gebracht hatte, und trat an den Tisch neben der Liege, um mich ans Aufräumen zu machen. Die Gegenwart dieses Mannes machte mich fahrig und ich musste meine Finger beschäftigen, damit ich nicht dumm in der Gegend herumstand und nervös meine Hände knetete, während mein Herz zu hüpfen begann.
»Es klang eher, als wollte er uns für seine Zwecke einsetzen.« Obwohl seine Stimme weiterhin neutral klang, hatten seine Gefühle sich verändert. Wut und Hass strömten an die Oberfläche und richteten sich auf eine Erinnerung, die ich nicht sehen konnte, weil ich nur an der Oberfläche kratzte und mich im Moment nicht tiefer hineinwagte.
»Ja. Er will euch Hirnsaft saugende Egel in den Nacken setzen. Sie schwächen den freien Willen und machen einen für Befehle zugänglich. Und dann vergiften sie dich,