Der Bergpfarrer Paket 2 – Heimatroman. Toni Waidacher
wurde hellhörig. Er kannte das feine Gespür der Pensionswirtin für die großen und kleinen Nöte ihrer Gäste. Er selber hatte im Lauf der Jahre eine ähnliche ›Antenne‹ entwickelt.
»Also, vielleicht ist ja auch gar nix d’ran«, berichtete die Wirtin. »Aber ich hab’ da eine junge Frau in Pension, Angela Holzer heißt sie, und ehrlich gesagt, mach’ ich mir ein bissel Sorge um sie. Wissen S’, Hochwürden, die Frau Holzer ist gestern mittag angekommen. Sie schaut hübsch aus und scheint mir ein freundliches Wesen zu haben. Aber da ist was, das mich nachdenklich macht. Erst einmal schaut’s immer so traurig d’rein, und gestern hat’s nur einen kleinen Spaziergang gemacht und ist dann den ganzen Abend auf dem Zimmer gehockt. Heut’ morgen, beim Frühstück hat sie kaum was gegessen, ist gleich wieder hinauf gegangen, da sitzt s’ immer noch. Finden S’ das net auch merkwürdig?«
Sebastian zuckte die Schulter.
»Na ja, vielleicht hat die junge Frau in der letzten Zeit viel Aufregung gehabt und braucht jetzt erst einmal Ruhe und Gelegenheit, wieder zu sich selbst zu finden«, überlegte er. »Hat sie denn net ein bissel was von sich erzählt?«
Ria schüttelte den Kopf.
»Bisher hab’ ich ja auch net viel Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden. Beim Frühstück war’s sehr schweigsam, daß ich schon gedacht hab’, ihr schmeckt’s überhaupt net. Aber dann hat’s versichert, daß es nur am mangelnden Appetit liegt. Aber warum ich eigentlich hergekommen bin – als das Zimmer reserviert wurde, da war’s net die Frau Holzer, sondern ein Mann, der das getan hat. Ein Doktor Ferbach, von einer Münchner Klinik. Er sagte, er hand’le im Auftrag von Frau Holzer und bat mich, ich sollt’ ein bissel auf sie aufpassen. Nach einem längeren Aufenthalt in der Klinik wär’ die Frau Holzer noch sehr angeschlagen und bräuchte Erholung. Deshalb habe er, dieser Doktor, auch Sankt Johann vorgeschlagen, das er von früher her kenne.«
»Na bitte, da haben wir ja schon eine Erklärung«, sagte Sebastian. »Aber ich weiß, warum du hergekommen bist, Ria, und ich werd’ natürlich auch schau’n, daß ich der Frau Holzer helfen kann.«
Der Bergpfarrer hatte die unausgesprochene Bitte bereits verstanden. Ein längerer Klinikaufenthalt – das wies auf eine Krankheit oder einen Unfall hin, den Angela Holzer überstanden hatte. Aber damit war die Ursache, was dazu geführt hatte, noch nicht aufgearbeitet. Der Bergpfarrer vermutete, daß hier der Grund für die Traurigkeit der jungen Frau lag, die Ria Sorge bereitete.
Außerdem war da die Bitte des Arztes an die Zimmerwirtin, auf den Gast zu achten.
Sebastian überlegte, wie er mit Angela Holzer in Kontakt treten konnte.
»Vielleicht schlägst’ ihr einfach mal vor, die Kirche zu besichtigen«, meinte er an Ria gewandt. »Da ergibt sich immer eine Gesprächsmöglichkeit.«
*
Angela blätterte lustlos in den Illustrierten, die sie gestern Nachmittag an einem Kiosk gekauft hatte. Nach dem Kaffeetrinken war sie durch das Dorf gebummelt und hatte sich ein wenig umgesehen. St. Johann gefiel ihr, und wenn sie nicht alleine gewesen wäre, dann hätte es vielleicht ein sehr schöner Urlaub werden können...
Aber schon am Abend wußte sie, daß sie nicht mehr ausgehen würde. Bestimmt saßen die meisten Urlauber in der Wirtsstube beim Abendessen, doch wenn sie alleine dort sitzen mußte, würde sie ganz sicher keinen Bissen herunterbringen. Bis sie eingeschlafen war, lag sie in ihrem Bett und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte. Sie brauchte eine neue Stellung, eine Wohnung und vielleicht Menschen, mit denen sie über das, was hinter ihr lag, reden konnte.
Viele Gedanken waren es, die auf sie einstürmten, aber zu einem konkreten Ergebnis kam die junge Frau nicht.
Das Frühstück war verlockend, doch kaum eine halbe Semmel konnte sie essen. Natürlich entging ihr nicht der besorgte Blick der freundlichen Pensionswirtin, die wohl dachte, es schmecke ihr nicht, und schnell versicherte sie, daß es nur am fehlenden Appetit lag. Sie trank ihren Kaffee aus und ging auf das Zimmer zurück. Dort setzte sie sich an das Fenster und starrte stundenlang hinaus. Zwischendurch griff sie immer wieder zu den Magazinen, doch die Geschichten und Reportagen, aus der Welt der Reichen und der Schönen, interessierten Angela nicht wirklich.
Wie es in Adelshäusern zuging, das wußte sie aus eigener Erfahrung:
Endlich raffte sie sich auf und legte die Zeitschriften auf einen Stapel. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es bereits später Nachmittag war, und endlich schien sich ein leises Hungergefühl einzustellen.
Ria Stubler rumorte irgendwo in der Küche, als Angela die Treppe herunter kam. Die junge Frau, mit den traurigen Augen, legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen. Im selben Augenblick steckte die Wirtin ihren Kopf durch die Tür.
»Hab’ ich doch recht gehört«, sagte Ria. »Na, Frau Holzer, wollen S’ ein bissel ausgeh’n? Ich hab’ geglaubt, Sie wollen den ganzen Urlaub auf dem Zimmer verbringen.«
Angela lächelte. Am liebsten würde sie das auch tun, aber das sagte sie nicht.
»Wo kann ich denn, hier im Dorf, eine Kleinigkeit essen?« erkundigte sie sich.
»Na ja, viele Möglichkeiten
gibt’s da net«, entgegnete Ria. »Im Löwen natürlich, und drüben, beim Metzger, da gibt’s einen Imbiß. Damit hat’s sich aber auch schon.«
Sie trocknete sich die Hände an einem Tuch ab und kam ganz aus der Tür heraus.
»Wissen S’ was? Warum essen S’ net mit mir zusammen?« schlug sie vor. »Es ist ja schon gleich halb sechs, die rechte Zeit für’s Abendessen. Ich hab’ noch einen Eintopf von gestern. Der schmeckt erst heut’, wenn er aufgewärmt ist, so richtig.«
Angela Holzer wollte zuerst ablehnen. Aber die Aussicht, allein an einem Tisch im Gasthaus zu sitzen, zwischen all den fröhlichen Urlaubern, behagte ihr gar nicht. Deshalb nahm sie die Einladung gerne an.
Die Pensionswirtin wärmte schnell die Suppe auf, und kurze Zeit später saßen die beiden Frauen in der kleinen, privaten Küche des Hauses und ließen es sich schmecken.
»Entschuldigen S’, wenn ich ein bissel neugierig erschein«, begann Ria Stubler die Unterhaltung. »Wissen S’, es ist net meine Art, mich in die Angelegenheit and’rer Leute zu mischen. Aber wenn mir jemand sympathisch ist, und ich das Gefühl hab’, es geht ihm net gut, dann...«
»Schon gut«, antwortete Angela. »Sie haben natürlich bemerkt, daß ich mich auf dem Zimmer verkriech’, wie eine Schnecke in ihrem Haus.«
Sie ließ versonnen den Löffel sinken.
»Nein, es geht mir wirklich net besonders gut«, fuhr sie fort. »Ich hab’ beinahe ein Vierteljahr im Krankenhaus gelegen.«
Rias Hand fuhr erschrocken zum Mund.
»Waren S’ so schlimm krank?«
»Ein Autounfall«, erklärte die junge Frau. »Der Wagen hatte Totalschaden, über zwei Stunden war ich in dem Wrack eingeklemmt, ehe die Feuerwehr mich heraus holen konnte.«
»Um Himmels willen, da können S’ ja von Glück sagen, daß Sie noch am Leben sind!«
Angela nickte nachdenklich.
»Tja, da hatte ich wohl einen Schutzengel, obwohl...«
Ria sah sie forschend an.
Bedeutete dieses ›obwohl‹, daß Angela Holzer lieber keinen Schutzengel gehabt hätte?
Wollte sie vielleicht sogar sterben und ist absichtlich...?
Ihre Blicke begegneten sich, und Ria sah wieder diesen unendlich traurigen Ausdruck in Angelas Augen.
»Ja, vielleicht wär’s besser gewesen, mein Schutzengel wär’ in diesem Augenblick verhindert gewesen«, meinte die junge Frau.
Die Pensionswirtin griff unwillkürlich nach ihrer Hand, die auf dem Tisch lag, und sah Angela streng an.
»So