Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
und Erwachsenen hin und her, damit ihnen auch ja kein Leckerbissen entging. Severin war dagegen vernünftiger. Die Dogge hatte es sich zu Andreas Füßen bequem gemacht und kam dadurch auf ihre Kosten.
»Was für ein friedlicher Tag«, stellte Denise glücklich aufatmend fest und sah sich mit leuchtenden Augen in der Runde um.
»Ja, das Leben ist einfach wundervoll!«, rief Andrea und fasste nach der Hand ihres Mannes. »Könnt ihr euch vorstellen, dass um die gleiche Zeit im nächsten Jahr schon unser Baby da sein wird? Was es wohl sein mag? Ein Junge? Ein Mädchen?« Ein verträumtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Wenn es ein Junge wird, muss er genauso aussehen wie Hans-Joachim.«
»Und wenn es ein Mädchen ist, soll es so sein und aussehen wie du, mein Liebling«, erklärte Hans-Joachim liebevoll.
Betti erschien auf der Terrasse. »Frau von Schoenecker, Sie werden von Frau Rennert am Telefon verlangt«, sagte sie.
»Oje!«, rief Alexander, »es gibt doch tatsächlich keinen Tag, an dem man nicht nach meiner Frau verlangt.«
Denise fuhr ihm zärtlich übers Haar und folgte dann dem Mädchen ins Haus.
»Was mag nur schon wieder in Sophienlust los sein?«, überlegte Andrea laut. »Mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Ich hatte vorhin schon so eine Ahnung, dass man Mutti brauchen würde. Ich könnte wetten, dass sie sofort nach Sophienlust fahren muss, weil irgendwer auf sie wartet. Manchmal sind die Leute wirklich rücksichtslos. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass Mutti Wunder vollbringen kann. Allerdings glaube ich das ja auch«, gab sie zu.
Gespannt richteten sich alle Augenpaare auf Denise, als sie zurückkam.
»Was ist los, mein Liebes?«, fragte Alexander. »Fährst du nach Sophienlust?«
»So ist es, mein Lieber. Ich muss tatsächlich fahren. Aber bleibt auf alle Fälle hier. Ich komme in ein bis zwei Stunden zurück. Nein, Alexander, du brauchst mich wirklich nicht zu begleiten«, wandte sie sich an ihren Mann, als er sich erheben wollte. »Herr Cornelius und sein kleiner Sohn sind in Sophienlust eingetroffen und wollen mich sprechen.«
»Aber er wollte doch erst morgen kommen«, wunderte sich Andrea.
»Er muss morgen in aller Frühe nach London fliegen. Darum ist er heute gekommen. Er möchte seinen Sohn bei uns unterbringen. Seine Frau scheint krank zu sein. Hallo, Henrik, was ist los?«, fragte Denise ihren Jüngsten, der angelaufen kam.
»Ich wollte euch nur mal besuchen«, erwiderte der vergnügt. »Mutti, fährst du denn fort?«
»Ja, Henrik, ich muss auf einen Sprung nach Sophienlust fahren. Ein kleiner Junge und sein Vater …«
»Mutti, darf ich mitfahren?«, unterbrach Henrik sie begeistert. »Wie alt ist der Junge? Kommt er zu uns?«
»Das wird sich heute entscheiden. Der Junge ist noch nicht ganz sechs Jahre alt. Er soll im Herbst in die Schule kommen.«
»Wie heißt er denn?«
»Das weiß ich noch nicht.« Denise strich Henrik über den Scheitel. »Also, dann fahre mit. Aber wollte Nick dich nicht auch filmen?«
»Ich bin doch schon so oft von ihm gefilmt worden. Außerdem werden wir ja vielleicht bald wieder zurück sein.« Man sah dem Kleinen an der Nasenspitze an, dass ihm im Augenblick die Entscheidung nicht leicht wurde. Aber schließlich siegte seine Neugierde. »Ich komme auf alle Fälle mit!«, rief er und folgte seiner Mutter zum Auto.
*
Enno Cornelius und sein kleiner Sohn Pieter waren von der Heimleiterin in den Wintergarten geführt worden. Frau Rennert war das verstörte Wesen des Kindes nicht entgangen. Sie hoffte, dass der Papagei Habakuk und die Fischchen im Aquarium den Jungen ein wenig von seinem Kummer ablenken würden.
Nun stand Pieter staunend vor dem großen Käfig mit dem bunten Papagei. Er schien im Augenblick nichts weiter als ein kleiner Junge zu sein, der genauso fröhlich und begeistert sein konnte wie andere Kinder. »Du, Vati, die nette Dame hat doch gesagt, der Papagei könnte viele, viele Worte sprechen. Warum sagt er denn nichts?«
»Vielleicht solltest du ihn mal fragen?«
»Vati, aber ich habe seinen Namen vergessen.« Pieters blonde Brauen zogen sich zusammen. »Hast du dir den schweren Namen merken können?«
»Ja, Pieter.« Gerührt blickte Enno Cornelius auf den blonden Scheitel seines einzigen Kindes. »Der Papagei heißt Habakuk.«
»Das ist ein komischer Name, nicht wahr? Kann ein Mensch auch so heißen?« Ein grübelnder Ausdruck trat in die blauen Kinderaugen. »Ich kenne niemanden, der so heißt. Du?«
»Habukuk war einer der zwölf kleinen Propheten im Alten Testament. Frau Rennert hat uns das doch vorhin erzählt.«
»Ach ja, Vati. Aber ich war vorhin schrecklich aufgeregt und habe nicht alles verstanden. Nicht wahr, das Kinderheim Sophienlust ist gar nicht wie ein wirkliches Kinderheim? Es sieht doch wie ein richtiges Schloss aus. Findest du das nicht auch?«
»Ja, Pieter«, gab Enno Cornelius zu. Auf dem Weg von Essen nach Wildmoos hatte er noch Zweifel gehegt, ob er seinen Sohn in Sophienlust unterbringen sollte. Nun aber glaubte er fest, dass Pieter sich hier wohl fühlen und in dieser Atmosphäre auch sein scheues Wesen ablegen würde. Daheim, in der luxuriösen Villa, schien das unmöglich zu sein. Betty, seine Frau, hatte das Kind von Geburt an unterjocht und ihm dadurch die Möglichkeit genommen, sich innerlich frei zu entfalten. Wenn er, Enno, am Abend nach Hause gekommen war, hatte Pieter ihn niemals begrüßen dürfen, weil Betty es so wollte. Meist war er später zu dem Jungen hinaufgegangen, um ihm wenigstens gute Nacht zu sagen. Doch Pieter war dann oft so verschüchtert gewesen, dass er kaum ein Wort über die Lippen gebracht hatte.
Nach und nach hatte Enno den Reden des Personals auch entnommen, dass Betty das Kind oft grundlos anschrie oder sogar ohrfeigte, wenn sie ihre schlechte Laune abreagieren wollte. Mit Betty war darüber nicht zu sprechen. In seiner Ratlosigkeit hatte er seine Mitarbeiterin Julia van Arx ins Vertrauen gezogen. Sie gehörte zu den stillen Frauen, denen man unwillkürlich Dinge anvertraute, die man sonst ängstlich vor der Öffentlichkeit geheimhielt, und arbeitete seit einigen Monaten als Fremdsprachenkorrespondentin in seinem Werk. Von Anfang an hatte er sich glänzend mit ihr verstanden. Schon bei dem Gedanken an die junge Witwe wurde ihm jetzt ganz warm ums Herz. Deutlich sah er ihre großen dunkelblauen Augen vor sich, die in manchen Momenten violett schimmerten. Ihr warmherziges Lächeln verschönte ihr unregelmäßiges Gesicht so sehr, dass man es immer wieder anschauen musste. Auch hatte sie eine tadellose Figur. Ihre unauffällige Eleganz gefiel ihm sehr. Ja, sie verstand es, etwas aus ihrem Typ zu machen, was man von seiner Frau nicht behaupten konnte.
Ennos Gesicht verdüsterte sich jäh. Das Lächeln verschwand. Solche Vergleiche Julias mit Betty sollte er lieber bleiben lassen, sagte er sich. Denn Betty schnitt dabei nicht sehr gut ab.
Dabei war seine Frau früher einmal eine wirkliche Schönheit gewesen mit ihren hellen Haaren, den hellblauen Augen und der guten Figur. Nun aber war sie dick geworden und ihre einstmals klassischen Züge waren verschwommen. Ihre klangvolle Stimme hatte zudem einen schrillen Ton bekommen, der oft an seinen Nerven zerrte.
»Ich habe soeben mit Frau von Schoenecker gesprochen. Sie wird in wenigen Minuten hier sein«, unterbrach Frau Rennert die unerfreulichen Gedankengänge des Industriellen.
»Es tut mir sehr leid, dass ich Frau von Schoenecker in ihrer Sonntagsruhe stören muss, aber …«
»Das macht doch nichts«, fiel Frau Rennert ihm lächelnd ins Wort. »Na, kleiner Mann, gefällt dir der Papagei?«
»Ja, Tante, er ist sehr hübsch. Und so bunt. Aber er schaut mich nur an und sagt kein Wort.«
»Habakuk, was ist los?«, fragte Frau Rennert und trat an den Käfig. »Willst du denn unseren kleinen Pieter enttäuschen?« Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. »Weißt du, er ist traurig, weil alle Kinder heute fort sind«, erklärte sie.
»Wo sind sie denn?«
»Fort!