Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
ein Lied von der Zuverlässigkeit einer Klinikchefin singen. Daran hatte auch die schöne Uhr nichts ändern können.
»Aber es ist ja schon drei Uhr. Wie soll ich das denn hinkriegen?«
»Effektiv, wie Sie immer arbeiten, habe ich keinerlei Bedenken, dass Sie das mit links schaffen«, machte Andrea ihrer Chefin Mut. Gleichwohl wusste sie, dass jederzeit etwas passieren konnte, das auch die beste Zeitplanung durcheinander bringen konnte.
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, seufzte Jenny und wandte sich ab, um sich in ihrem Büro an den Schreibtisch zu setzen.
»Ich bringe Ihnen gleich frischen Kaffee und ein bisschen Obst. Es würde kein gutes Licht auf die Klinik werfen, wenn ausgerechnet die Chefin an Skorbut erkrankt«, rief Andrea ihr nach.
Jenny Behnisch hatte die Bürotür offen stehen lassen und lachte.
»Ohne Sie wäre ich bestimmt schon längst verhungert und verdurstet.«
»Und hätten Ihren Lebensgefährten das letzte Mal vor einem Monat gesehen«, erinnerte Andrea ihre Chefin, während sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.
»Warum nur habe ich mir keinen Arzt gesucht, so wie Daniel und Fee es gemacht haben?«, fragte sich die Klinikchefin halblaut und nicht ganz ernst. »Es macht vieles einfacher, wenn beide in derselben Branche arbeiten.« Sie rief die Seite im Internet auf, mit der sie sich vor der Visite beschäftigt hatte.
»Weil einfacher nicht unbedingt besser ist«, lächelte Andrea vielsagend und servierte schon mal frische Erdbeeren und Trauben.
Nebenan blubberte die Kaffeemaschine, und gleich darauf zog ein aromatischer Duft durch die Zimmer.
Davon bekam Jenny Behnisch schon gar nichts mehr mit. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte wieder dem Artikel, auf den sie vorhin durch Zufall gestoßen war.
»… entwickeln die Patienten innerhalb weniger Tage Unwohlsein, Kopfschmerzen, Fieber und Husten«, las sie halblaut vor. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, griff sie nach der Tasse und trank einen Schluck. »Das deckt sich ja schon mal mit Fees Symptomen … anschließend treten meist im Gesicht, am Hals und Oberkörper massive Hautausschläge auf …« An dieser Stelle schüttelte Jenny den Kopf. »Das wiederum trifft nicht auf sie zu. Bis auf die Blasen auf der Schleimhaut … Moment mal.« Jennys Augen flogen weiter über den Text. »In bis zu 90 Prozent der Fälle treten gleichzeitig mit den Hautausschlägen schmerzhafte orale Verkrustungen auf … Das ist es!« Vor Aufregung über diese Entdeckung begann ihr Herz, schneller zu schlagen. »Die Krankheitsbilder treten bei einem bis fünf von einer Million Menschen auf. Die Schwere des Krankheitsbildes ist bei Patienten mit Immunschwächen höher …«, las Jenny atemlos weiter. Mit der Kaffeetasse in der Hand hielt sie inne und lehnte sich im Stuhl zurück. Unentwegt starrte sie auf den Monitor. »Das würde auch erklären, warum bei Fee der typische Hautausschlag fehlt.« An dieser Stelle hatte sie zumindest vorerst genug gelesen. Sie stellte die Kaffeetasse zur Seite und wollte sich eben über den Schreibtisch zu ihrem Telefon beugen, als Stimmen aus dem Vorzimmer zu ihr drangen.
»Hallo Frau Sander, sitzt die Chefin immer noch am Computer?«, erkundigte sich Daniel Norden.
Andrea hatte nur Gelegenheit zu nicken, da stürmte er auch schon an ihr vorbei ins Büro.
»Jenny, es gibt einen Hinweis darauf, was Fee fehlen könnte. Hast du schon mal …«
»Stevens-Johnson-Syndrom.« Lächelnd saß die Klinikchefin am Schreibtisch und weidete sich am überraschten Gesichtsausdruck ihres langjährigen Freundes. »Ich habe gerade etwas darüber gelesen und wollte eben veranlassen, dass Fee auf diese Krankheit untersucht wird.« Sie hielt inne und sah Daniel fragend an. »Aber ehrlich gesagt finde ich es unfair, dass du mir mein Erfolgserlebnis nimmst«, erlaubte sie sich einen kurzen Scherz. »Warum bist du mir so oft um eine Nasenlänge voraus?«
»Diesmal habe ich es nicht meinem Talent, sondern dem Zufall zu verdanken«, ging Dr. Norden augenzwinkernd auf ihren scherzhaften Tonfall ein, als das Telefon auf Andrea Sanders Schreibtisch klingelte.
Unwillkürlich horchten sowohl die Chefin als auch ihr Besucher auf.
»Ja, ist in Ordnung. Ich werde Frau Dr. Behnisch sofort informieren.« Damit war das Gespräch auch schon beendet.
»Was gibt es denn, Andrea?« Jenny war aufgestanden und ging an die Tür, die Vorzimmer und Büro voneinander trennte.
»Der Beckenbruch«, seufzte Andrea Sander bedauernd. »Er hat sich verdreht und jetzt ist das Bein völlig taub.«
»Das heißt, dass er sofort in den OP muss.«
»Woher wissen Sie das?«, erkundigte sich Andrea Sander überrascht.
Es war Daniel, der die Antwort übernahm.
»Wir sollten uns besser daran gewöhnen, dass Jenny Fähigkeiten hat, von denen sie uns bisher nichts erzählt hat«, erklärte er augenzwinkernd, ehe er sich an seine Freundin wandte. »Du bist mir doch nicht böse, wenn ich …«
»Kümmere du dich um Fee und darum, dass unser Verdacht schnellstmöglich bestätigt wird«, wusste Jenny Behnisch auch diesmal, was er sagen wollte. »Wenn sie wirklich dieses Syndrom hat, können wir noch lange keine Entwarnung geben. Damit ist nicht zu spaßen.«
Daniel, der nach dem Telefonat mit seiner Tochter sofort zu Jenny geeilt war, erschrak. Das hatte er nicht gewusst.
»Wie meinst du das?«, fragte er atemlos.
Die Klinikchefin haderte kurz mit sich. Doch es war nicht ihre Art, jemandem etwas zu verschweigen.
»Falls wir es wirklich mit diesem Syndrom zu tun haben, besteht ein hohes Risiko für Infektionen, Multiorganversagen und Tod.«
»Welche Therapie-Möglichkeiten stehen zur Verfügung?«
»Es gibt zwei Standards, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Entweder behandelnd wir mit Kortison oder mit Blutplasma. Dummerweise gibt es keinen goldenen Weg.« Es war ihr anzusehen, dass sie ihrem Freund lieber eine andere Nachricht überbracht hätte.
Doch Daniel wollte sich in diesem Augenblick nicht mehr Sorgen machen als unbedingt nötig.
»Wir müssen herausfinden, was ihr fehlt«, beschloss er. »Dann sehen wir weiter. Bis später!«
Er hob die Hand zum Gruß, ehe er auf dem schnellsten Weg zu den Kollegen eilte, um alles für eine schnelle Diagnosestellung in die Wege zu leiten. Und auch Jenny war schon wieder unterwegs. Die ungewöhnliche Ruhephase am Schreibtisch war vorbei, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang.
*
Mit Panik im Blick hatte Ricarda Schmied mit ansehen müssen, wie ihr Freund von zwei Schwestern eilig aus dem Zimmer gebracht wurde.
»Jetzt bleibt Ihnen wirklich nichts anderes übrig als zu warten«, hatte Schwester Lydia noch gesagt, ehe sie mit der Kollegin verschwunden war.
Sie wusste nicht, wie lange sie noch im Zimmer geblieben war und auf den leeren Fleck gestarrt hatte, auf dem vor kurzem noch Sebastians Bett gestanden hatte. Doch schließlich hielt sie die Leere um und in sich nicht mehr aus und machte sich mit hängenden Schultern auf den Weg in die Caféteria. Dort angekommen besorgte sie sich eine Cola und ließ sich auf einen Stuhl an einem der zahlreichen freien Tische fallen.
Um diese Uhrzeit war der gemütliche Raum nur spärlich besucht. Hier und da saßen zwei Ärzte oder Schwestern zusammen, und ein paar Besucher bevölkerten zwei Tische. Ansonsten war es ruhig. Deprimiert nippte Ricarda an ihrem Erfrischungsgetränk. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so von aller Welt verlassen und verloren gefühlt.
»Alles ist ganz anders gelaufen, als ich es mir vor ein paar Tagen noch ausgemalt hab«, murmelte sie und merkte, wie sich der Knoten in ihrem Hals auflöste und den Weg frei machte für eine Flut von Tränen. »Es hat doch alles so gut angefangen. Und jetzt hab ich alles kaputt gemacht«, schluchzte sie verzweifelt auf.
»Was haben Sie kaputt gemacht?«
In ihr Schluchzen