Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Trotzdem erkannte sie Dr. Daniel Norden sofort.
»Ist hier noch frei? Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er. Er war so lange bei seiner Frau geblieben, bis die Kollegen sie zu den Untersuchungen abgeholt hatten, die für die neue Diagnosestellung nötig geworden waren. Die Wartezeit, bis die ersten Ergebnisse da waren, wollte Daniel nicht in quälender Ungewissheit alleine, verbringen und hatte daher beschlossen, in die Caféteria zu gehen. Dort hatte er Ricarda entdeckt und keinen Moment gezögert.
»Sie wollen sich zu mir setzen?«, fragte sie ungläubig und putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das er ihr gereicht hatte. »Und das, obwohl ich mit meinem Gerede allen auf die Nerven gehe?«
»Ich für meinen Teil finde Ihre Art herzerfrischend«, erklärte Daniel und setzte sich auf den freien Stuhl an ihrem Tisch. »Und ich bin sicher, dass es Sebastian ebenso geht.«
»Das glauben Sie!«, platzte Ricarda traurig heraus, und schon schwammen ihre Augen wieder in Tränen. »Dabei hat er erst vor ein paar Stunden zu mir gesagt, dass er nichts mehr von mir wissen will. Und ich bin schuld an allem.«
»Aber wie kommen Sie denn auf diese Idee?«, fragte Daniel ungläubig. »Warum sollten Sie schuld an seinem Unfall sein?«
»Nicht an dem Unfall. Aber daran, dass er das Bein verdreht hat«, gestand sie schluchzend. »Ich wollte ihn trösten und ihm sagen, dass ich ihn trotzdem liebe, auch wenn er im Rollstuhl landen sollte. Das macht mir doch nichts aus. Hauptsache ist doch, dass er am Leben ist. Aber er wollte mir einfach nicht glauben und hat sich weggedreht. Dabei ist es passiert.« Wieder purzelten die Worte aus ihrem Mund, ohne dass sie etwas daran ändern konnte.
Insgeheim musste Daniel lächeln.
»Aber Sie lieben ihn. Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?«, fragte er, als er aus den Augenwinkeln eine Schwester sah, die geradewegs auf den Tisch zukam.
In der Annahme, sie könnte Neuigkeiten von Fee bringen, schlug sein Herz schneller. Doch es war Schwester Lydia, die auf der Suche nach Ricarda war.
»Diesmal haben Sie sich ja an die Anweisungen gehalten«, stellte sie zufrieden fest, als sie an den Tisch trat. Das Lächeln auf ihren Lippen war freundlich.
Ricarda trocknete die Tränen und sah sie mit großen Augen an.
»Haben Sie Neuigkeiten von Sebastian?«, fragte sie sichtlich nervös.
Lydia nickte.
»Die Chefin schickt mich. Ich soll Sie fragen, ob Sie zu Herrn Hühn wollen.«
»Darf ich denn?« Ricarda konnte ihr Glück nicht fassen, und die Schwester schmunzelte.
»Offenbar haben Sie ganz schön Eindruck geschunden bei Frau Dr. Behnisch«, verriet sie augenzwinkernd. »Sonst würde sie das nie und nimmer erlauben.« Sie wandte sich an Daniel Norden. »Erlauben Sie, dass ich Ihnen Ihre charmante Unterhalterin entführe?«
»Ungern, aber es muss wohl sein.«
Ricarda war schon aufgestanden. Einer spontanen Eingebung folgend drehte sie sich noch einmal zu Dr. Norden um und umarmte ihn so fest, dass er kaum mehr Luft bekam.
»Danke. Danke für alles!«, raunte sie ihm ins Ohr. »Ich hab gehört, dass Ihre Frau schwer krank ist.« Zu seiner Erleichterung löste sie die Arme um ihren Hals und er holte tief Luft.
»Das stimmt. Bisher wussten wir nicht, was ihr fehlt. Aber jetzt haben wir Hoffnung, ihr endlich helfen zu können«, erwiderte er und stand ebenfalls auf. Vielleicht gab es ja schon erste Ergebnisse.
»Meine Gedanken sind bei Ihnen«, versprach Ricarda innig. Doch davon wollte Dr. Norden nichts wissen.
»Ihre Gedanken gehören jetzt erst einmal ganz allein Ihrem Freund. Er braucht Sie im Augenblick am nötigsten. Auch wenn er es vielleicht nicht zugeben will.«
Seine Wort trafen die junge Krankenschwester direkt ins Herz, und sie nickte zutiefst gerührt. Dann wurde es Zeit, der sichtlich ungeduldigen Schwester auf die Station zu folgen.
*
»Wie sagt man so schön? Das war auf den letzten Drücker«, erklärte Dr. Jenny Behnisch sichtlich zufrieden, als sie den Operationssaal in Begleitung der Kollegen verließ.
Schwester Elena konnte noch nicht glauben, welches Wunder sie gerade miterlebt hatte.
»Unser Dachdecker wird wirklich wieder laufen können«, schwärmte sie ergriffen.
»Die Rehabilitation wird schon noch eine Weile in Anspruch nehmen, und er wird fleißig üben müssen«, gab Jenny zu bedenken. Sie nahm die Gesichtsmaske, die noch an einem Ohr gebaumelt hatte, ab und warf sie in einen Abfalleimer auf dem Flur. »Aber dann wird er ohne Einschränkung leben können.«
»Ich wage nur zu bezweifeln, dass er je wieder auf Dächer klettern kann«, gab Dr. Weigand zu bedenken. »Gibt’s bei Dachdeckern sowas wie einen Innendienst?«
»Meines Wissens wird Herr Hühn sowieso die Geschäftsleitung übernehmen und nicht mehr selbst in luftigen Höhen herumturnen müssen«, berichtete Jenny Behnisch das, was Ricarda erzählt hatte. »Aber wie auch immer hat sich unser Einsatz gelohnt. Ich danke Ihnen für die gute Arbeit!« In der Ferne hatte sie Schwester Lydia entdeckt, die in Begleitung von Ricarda des Weges kam.
Mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen erwartete sie die beiden vor dem Wachraum, in den Sebastian inzwischen gebracht worden war. Als Ricarda die Klinikchefin erkannte, verfiel sie in Laufschritt.
»Wie geht es Basti?«, rief sie über den Klinikflur und errötete, als Jenny mahnend den Zeigefinger auf die Lippen legte.
»Bitte entschuldigen Sie. Natürlich weiß ich, wie man sich in einer Klinik zu benehmen hat. Aber ich bin so aufgeregt.« Bevor sie wieder in den üblichen Redefluss verfallen konnte, hielt sie inne und sah Jenny erwartungsvoll an.
Die honorierte die offensichtlichen Bemühungen mit einem freundlichen Lächeln.
»Der Eingriff ist ohne Komplikationen verlaufen und Herrn Hühns Prognose sehr gut.«
»Ist das wahr?« Vor Freude hopste Ricarda wie ein kleines Mädchen auf der Stelle auf und ab.
»Das ist es. Und ich habe noch eine Botschaft für sie: Vor der Narkose bat er, Ihnen auszurichten, dass ihm seine Worte leid tun. Und dass er sich freut, wenn sie bei ihm sind, wenn er aufwacht.«
»Oh!« Mehr konnte Ricarda nicht sagen. Und das lag nicht nur an dem Kloß, der wieder in ihrem Hals saß.
Auch Jenny Behnisch hatte nichts mehr zu sagen. In den letzten Tagen hatte es genug Neuigkeiten gegeben. Während sie Ricarda dabei zusah, wie sie in einen grünen Kittel schlüpfte, um ihren Basti zu besuchen, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu ihrem Lebensgefährten. Wenn sie die Verabredung mit Roman einhalten wollte, sollte auch sie sich langsam auf den Weg machen.
»Für heute ist Feierabend für mich«, verabschiedete sie sich von Ricarda und machte sich auf den Weg in ihr Büro, als ihr noch etwas einfiel. Sie drehte sich noch einmal um. »Ach, Frau Schmied, könnten Sie bitte morgen um neun im Personalbüro sein? Auf dieser Station haben wir immer Bedarf an engagierten, erfahrenen und zuverlässigen Krankenschwestern.«
Ricardas Strahlen war Antwort genug, und Jenny Behnisch wandte sich endgültig ab. Doch sie setzte ihren guten Vorsatz nicht in die Tat um. Bevor sie ruhigen Gewissens ins Kino gehen konnte, musste sie unbedingt wissen, wie es um ihre Freundin Felicictas Norden stand. Mit weit ausgreifenden Schritten lief sie an dem Flur vorbei, der zu ihrem Büro führte, und eilte weiter Richtung Intensivstation.
Wo bin ich?« Felicitas Norden lag im Bett der Intensivstation und blinzelte in das helle Licht des noch jungen Morgens. Es dauerte einen Moment, bis sich der Nebelschleier lichtete und sie klar sehen konnte. »Was ist passiert?« Ihr fragender Blick ruhte auf dem Infusionsschlauch, der