Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau

Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau


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des Orpheons. Als Korrespondent der Gesellschaft dramatischer Autoren, deren Beiträge er einzog, verdankte er diesem Titel den Eintritt ins Theater, nicht nur in den Saal und durch die Haupttür, sondern auch hinter die Kulissen, durch den schmalen und unsauberen Seiteneingang, der für die Künstler reserviert war. Endlich gab er auch, je nach Wunsch, kleinen Mädchen Schreibstunden oder Unterricht in der französischen Sprache und jungen Liebhabern Anweisung im Flötenspiel und im Cornet à piston.

      All diese verschiedenen Talente hatten ihm während langer Zeit die stillschweigende Eifersucht der anderen Beamten des Ortes zugezogen, des Sekretärs der Stadtverwaltung, des Faktotums der Unterpräfektur, des ersten Commis der Hypothekenbank und selbst des Steuereinnehmers.

      Doch alle diese Eifersüchteleien hatten damit geendet, die Waffen vor einer allgemein anerkannten und überlegenen Autorität zu strecken. Er aber verbarg unter dem sichern Anschein einer ewig guten Laune den Ehrgeiz, der ihn verzehrte, den Wunsch, reich zu werden und einst für eine der angesehensten Personen von Sauveterre zu gelten.

      Denn er, der Herr Méchinet, war im Grunde ein geriebener Diplomat, fein wie Ambra und geschmeidiger als Seide.

      Er hatte es wohl bewiesen, indem er das Problem löste, die ganze Stadt durch seine quecksilbrige Persönlichkeit in Bewegung zu halten, sich in alles und jedes zu mischen, ohne sich einen einzigen offenkundigen Feind zuzuziehen.

      Die Erklärung lag darin, daß man ihn fürchtete und eine maßlose Angst vor seiner Zunge hatte.

      Nicht daß er jemals irgendeinem Menschen Böses zugefügt – oh, er war nicht so dumm –, aber wegen des Schadens, den er zufügen konnte, weil niemand wie er in allen kleinen Geheimnissen Sauveterres Bescheid wußte, weil niemand so genau von allen Intrigen, allen möglichen Schlechtigkeiten und Ränken unterrichtet war.

      Diese Umstände hingen mit seiner persönlichen Stellung zusammen. Da er Junggeselle war, lebte er bei seinen Schwestern, den Jungfern Méchinet, welche die ersten Schneiderinnen der Stadt und, was noch mehr sagen wollte, die eifrigsten und angesehensten Mitglieder jedes religiösen Vereins waren.

      Durch sie gewann er Einblick in die hohe Gesellschaft, und er kannte bis aufs letzte Wort die Skandalgeschichten, deren Echo er, sei es in seiner Druckerei, sei es auf dem Gericht, auffing.

      Oft pflegte er im Scherz zu sagen: »Wie sollte mir etwas entgehen, da mir zur Unterweisung die Kirche, das Journal, das Tribunal und das Theater zu Gebote stehen?«

      Ein solcher Mann wäre leicht aus seiner Rolle gefallen, hätte er nicht an seinen zehn Fingern all die Lebensumstände herzählen können, die man sich im Lande von Herrn von Boiscoran erzählte.

      Auch legte er sich, während der Wagen auf dem ebenen Wege durch den schönsten Junimorgen dahinrollte, alles zurecht, was er »das juristische Schatzkästchen des Eingeweihten« nannte.

      Herr von Boiscoran – mit Vornamen Jacques genannt – war nicht an sein Besitztum gebunden und hielt sich selten länger als einen Monat dort auf.

      Er lebte sonst in Paris, wo seine Familie in der Rue de l'Université ein komfortables Palais besaß. Denn seine Eltern lebten noch. Sein Vater, der Marquis von Boiscoran, Besitzer bedeutender Ländereien, Deputierter unter Louis Philippe, seit 1848 Volksvertreter, hatte sich seit Beginn des Zweiten Kaiserreichs zurückgezogen und verausgabte seitdem alles, was er an Betriebsamkeit und Kapital besaß, für Sammlungen aller Art künstlerischer Kuriositäten, insbesondere für Porzellansachen und Fayence, worüber er ein Buch geschrieben hatte.

      Seine Mutter, eine geborene Chalusse, hatte in dem Ruf einer der reizendsten und geistreichsten Frauen an dem Hofe des Bürgerkönigs gestanden.

      Auch war sie zu einer gewissen Zeit von der Nachrede nicht verschont geblieben; gegen 1845 oder 1846 war sie, wie man behauptete, die Heldin eines etwas »feurigen« Abenteuers gewesen, dessen Held ein eleganter Schreiber war, der später der ehrbarste Beamte wurde.

      Obgleich sein Vater und seine Mutter noch lebten, besaß Jacques von Boiscoran doch ein ziemlich bedeutendes Privatvermögen: etwa fünfundzwanzig- oder dreißigtausend Francs Renten.

      Dieses Vermögen, wozu das Schloß von Boiscoran mit seinen Feldern, seinen Wiesen und Wäldern gehörte, war ihm von einem seiner Onkel, dem ältesten Bruder seines Vaters, der um 1868 als Witwer und kinderlos starb, vererbt worden.

      Jacques von Boiscoran war um diese Zeit ein Mann von sechsundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahren, brünett, groß, kräftig, gut gebaut; nicht was man im eigentlichen Sinn des Wortes »einen hübschen Burschen« zu nennen pflegt, aber – was oft mehr sagen will – eine jener offenen und intelligenten Naturen, die jeden günstig für sich einnehmen.

      Sein Charakter war in Sauveterre weniger bekannt als seine Person.

      Unter den Leuten, die in Beziehungen mit ihm standen, galt er für gut und großmütig, für einen Freund geselliger Vergnügungen, für geistreich, lebhaft und mit einer heutzutage leider selten gewordenen offenherzigen Heiterkeit begabt.

      Nach dem Einfall der Preußen war er zum Hauptmann einer Kompanie Mobilgarden des Bezirks ernannt worden, und – zwar ist es beschämend, doch auch notwendig zu gestehen – es gab Leute im Lande, die ihm vorwarfen, daß er nicht so gut wie manche andere Führer gewußt hätte, die Gefahr zu vermeiden.

      Er hatte seine Leute tapfer ins Feuer geschickt und sich so tapfer benommen, daß der General Chanzy sogar für gut fand, ihm ein Stück des roten Ordensbandes zukommen zu lassen.

      »Und solch ein Mann sollte das niederträchtige Verbrechen von Valpinson begangen haben?« sagte Herr Daubigeon zum Untersuchungsrichter. »Nein, es ist unmöglich! Er wird bei den ersten Worten den schrecklichen Zweifel, der uns quält, zunichte machen.«

      »Und das wird sehr bald geschehen«, rief Ribot, »denn da sind wir schon!«

      In Saintonge, einer zwar wohlhabenden Gegend, wo aber große Besitzungen nur selten sind, pflegt man jedes Haus, wenn es nur ein spitzes Dach und eine Wetterfahne hat, ein Schloß zu nennen.

      Boiscoran aber verdiente wohl oder übel als ein solches bezeichnet zu werden.

      Der Bau gehörte dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts an, er war vom kläglichsten Geschmack, aber massiv und einer Festung ähnlich.

      Auch die Lage war glücklich. Ringsherum grünten Gehölze und Wiesen; am Fuß des abfallenden Gartens floß über ein Bett von Kieselsteinen ein kleiner Bach, der ohne Zweifel seinen Namen »die Elster« – im Dialekt von Saintonge »La Pibole« genannt – seinem fortwährenden Gemurmel verdankte.

      7

      Gegen sieben Uhr lenkte der Wagen mit den Gerichtspersonen in den Hof von Boiscoran.

      Es war dies ein großer mit Linden bepflanzter und von Wirtschaftsgebäuden umgebener Hof.

      Im Schloß war schon alles auf den Beinen. Vor der Tür ihrer Wohnung reinigte die Meierin den Kessel, in dem sie ihre Morgensuppe gekocht; die Mägde der Meierei gingen und kamen, und vor dem Stall stand ein kräftiger Bursche und bürstete aus allen Kräften ein stattliches Rassepferd.

      Auf der Freitreppe stand der Kammerdiener des Herrn von Boiscoran, Herr Antoine, überwachte alles und rauchte dabei seine Zigarre.

      Antoine war ein Mann in den Fünfzigern und dem Herrn von Boiscoran zugleich mit dem Vermögen als Vermächtnis seines Onkels zugefallen.


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