Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau

Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau


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      »Da ist sie! Da ist sie!« hörte man in der Menge murmeln, als sie am Arm des Herrn Folgat am Eingang des Bahnhofes erschien.

      Aber man sagte kein Wort weiter, so war man überrascht von der Zuversichtlichkeit ihrer Haltung.

      Die öffentliche Meinung teilte sich in zwei Strömungen: »Sie ist keck, diese Frau«, dachten die einen. »Sie ist von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt«, meinten die anderen. Die Marquise besaß jedenfalls Geistesgegenwart genug, um den Eindruck zu durchschauen, den sie hervorbrachte, und wie sehr sie recht daran getan, Herrn Folgats Rat zu folgen. Das verdoppelte ihre Kraft.

      Und indem sie in der Menge einige Personen aus ihrer Bekanntschaft gewahrte, trat sie auf diese zu und sprach mit gezwungen heiterem Gesicht: »Vermutlich wissen Sie bereits, was uns begegnete. Ist es nicht unerhört, die Freiheit eines Mannes, wie mein Sohn, der Gnade des ersten abgeschmackten Verdachtes, der das Gehirn eines Richters durchkreuzt, anheimfallen zu sehen? Ich erfuhr das Ereignis gestern durch ein Telegramm und eilte in Begleitung dieses Herrn herbei, der unser Freund und einer der bedeutendsten Anwälte von Paris ist.«

      Herr Folgat zog die Augenbrauen zusammen. Er hätte die Marquise lieber maßvoller gehört; indes hielt er es für gut, ihr zu Hilfe zu kommen.

      »Diese Herren vom Gericht«, sprach er mit orakelhaftem Tone, »haben vielleicht sehr bald zu bedauern, daß sie allzu rasch gehandelt haben.«

      Glücklicherweise näherte sich der Marquise ein junger Bedienter, der als Livrée nur eine Mütze mit goldener Tresse trug.

      »Der Wagen des Herrn von Chandoré ist hier«, sagte er, »zur Verfügung der Frau Marquise.«

      »Ich bin bereit, mein kleiner Freund«, antwortete die Marquise dem jungen Burschen.

      Und die Philister von Sauveterre grüßend, die über ihre Fassung ganz verdutzt waren, fügte sie hinzu: »Entschuldigen Sie mich, daß ich Sie so rasch verlasse; aber Herr von Chandoré erwartet mich. Übrigens hoffe ich, Sie heute nachmittag am Arme meines Sohnes besuchen zu können.«

      Das Haus Chandoré, wie die Leute von Sauveterre es bezeichnen, liegt an der heiteren Seite des Neumarkts, auf der höchsten Höhe der Rue de la Montagne, die nicht viel gangbarer ist als eine Hühnersteige und um deren Ausbesserung der Bürgermeister, Herr Sénéchal, unaufhörlich den Gemeinderat angeht, der seinerseits nicht müde wird, die Forderung abzulehnen.

      Das Haus ist ganz modern gebaut, plump, massiv und mit einem anspruchsvollen, spitzdachigen Seitentürmchen versehen, welches der radikale Doktor Seignebos »eine beständige Drohung des Feudalismus« zu nennen pflegt.

      Sicher ist, daß die Chandorés früher einen maßlosen Adelsstolz zur Schau trugen, die tiefste Verachtung gegen jeden hegten, dessen Vorfahren nicht mindestens bis auf die Kreuzzüge zurückreichten, und alle revolutionären Ideen haßten. Aber wenn ihre Stellung jemals von Bedeutung war, so war sie es doch längst nicht mehr.

      Der einzige Rest dieser einst großen Familie, einer der zahlreichsten und mächtigsten des Saintonge, waren ein alter Mann, der Baron von Chandoré, und seine Enkelin – die Verlobte des Herrn von Boiscoran.

      Denise war elternlos. Kaum drei Jahre alt, verlor sie in einem Zeitraum von weniger als fünf Monaten ihren Vater, der infolge eines nichtigen Streites im Duell fiel, und ihre Mutter, eine geborene von Lavarande, die nicht die Kraft besaß, ihren geliebten Gatten zu überleben.

      Das war ohne Zweifel für das Kind ein großes Unglück. Aber es sollte ihr weder an Zärtlichkeit noch an Fürsorge mangeln. Denn auf sie übertrug der Großvater alle seine Liebe, all seine Hoffnungen, und die Schwestern ihrer Mutter, die beiden schon in einem gewissen Alter stehenden Fräulein von Lavarande, faßten den heroischen Entschluß, sich nie zu verheiraten, um so sich ganz ihrer Nichte widmen zu können.

      Von jener Zeit an hatten beide Herrn von Chandoré gebeten, bei ihm leben zu dürfen. Er aber hatte diesen Vorschlag entschieden zurückgewiesen, er behauptete, seine Enkelin gehöre ihm allein, folglich wolle er sie auch für sich allein behalten. Es sei, fügte er hinzu, schon sehr viel, daß er den Fräulein von Lavarande gestattet, sich mit Denise zu beschäftigen und ihre Tage mit ihr zuzubringen.

      Aus dieser Mißhelligkeit mußte notwendig zwischen dem Großvater und den Tanten ein Wettstreit erwachsen, bei welchem es zu den lächerlichsten Übertreibungen kam.

      Diesem wie jenen galt es, die Neigung des kleinen Mädchens zu gewinnen. Über Nacht gleichsam sah man Herrn von Chandoré sich umwandeln, und von Natur ungestüm, streng und hart, wurde er urplötzlich zu einer Art »Kuchenpapa«. Er dämpfte den metallischen Glanz seiner Augen, zauberte auf seine Lippen ein ewiges Lächeln und gab seiner Stimme jene süßliche Weichheit, welche Kindermädchen anzunehmen pflegen.

      Man begegnete ihm auf den Straßen, immer auf den Beinen für seine Enkelin, bald zum Konditor, bald zum Spielwarenhändler laufend. Er lud ihre kleinen Freundinnen ein, veranstaltete Kindergesellschaften, ließ den Reifen oder Federball fliegen und führte, wenn nötig, sogar die Rundtänze an.

      Und doch fanden die Fräulein von Lavarande Mittel, den Herrn von Chandoré noch zu überbieten.

      Wenn Denise etwas lernte, so geschah es ohne Zweifel, weil sie es durchaus wollte, denn bei dem geringsten Zeichen von Ungeduld ihrerseits wären die alten Damen bereit gewesen, den Schreiblehrer zu verabschieden oder die Musiklehrerin fortzuschicken.

      Achselzuckend sah ganz Sauveterre diesem Schauspiel zu. Es ist gewiß, daß eine so blinde Nachgiebigkeit und beständige Vergötterung leicht aus Denise die unangenehmste kleine Person hätten machen können. Aber dies war durchaus nicht der Fall. Es gibt Naturen von so glücklicher Beschaffenheit, daß nichts sie verderben kann.

      Als sie älter wurde, sagte sie lachend: »Großpapa Chandoré, die Tanten Lavarande und ich, wir machen alles, was ich will.«

      Aber das war nur ein Scherz. Nie hatte ein junges Mädchen eine so reine und selbstlose Zuneigung durch seltenere und ausgezeichnetere Eigenschaften gelohnt.

      So lebte sie glücklich und sorgenlos und zählte, als das große Ereignis ihres Lebens anbrach, eben siebzehn Jahre.

      Herr von Chandoré traf eines Morgens Jacques von Boiscoran, dessen Onkel sein Freund war; er lud ihn zum Mittagessen, Jacques nahm die Einladung an, er kam, Denise sah – und liebte ihn.

      Von diesem Augenblick an hatte sie zum erstenmal ein Geheimnis, das weder der Großvater Chandoré noch die Tanten Lavarande kannten, und zwei Jahre lang waren ihre Blumen und Vögel die einzigen Vertrauten der Liebe, die auf dem Grunde ihrer Seele groß wuchs; süß wie ein Traum, idealisiert durch die Abwesenheit des Geliebten, poetisch durch die Erinnerung.

      Denn zwei Jahre vergingen, ehe Jacques diese Liebe gewahr wurde.

      Aber es kam der Tag, da ihm die Augen aufgingen und er, verwirrt durch sein Glück, geblendet durch die Aussichten, die sich ihm darboten, fühlte, daß sein Schicksal sich entschied. Auch zögerte er nicht weiter, und kaum einen Monat später reiste sein Vater, der Marquis von Boiscoran, nach Sauveterre, um bei dem alten Herrn von Chandoré um die Hand des Fräuleins Denise zu werben.

      Das war ein harter Schlag für den Großvater Chandoré.

      Der Gedanke, Denise hinzugeben, sie einen andern Mann vorziehen zu sehen, von dem sie dann Kinder haben werde, war ihm schrecklich. Es fehlte nicht viel, und er hätte den Vermittler dieser unerwünschten Angelegenheit aus dem Hause werfen lassen.

      Dennoch bezwang er sich


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