Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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aber man is ja ein Chris­ten­mensch, un auf die Stra­ße wer­f’ ich ke­nen, ne Frei­lein, da soll mich Gott vor be­wah­ren, un man tut ja auch gern den Weg un läuft vor so ’n ar­mes Mä­chen, und erst könnt’ ich die Num­mer nich fin­den …«

      »Woran ist das Kind ge­stor­ben?« frag­te Aga­the un­ge­dul­dig.

      Die Alte hob die Au­gen weh­lei­dig zum Him­mel. »So ’n En­gel­chen«, jam­mer­te sie mit ei­ner un­an­ge­neh­men Sen­ti­men­ta­li­tät, »ich hab’s im­mer ge­sagt, Lui­se, hab ich bei sie ge­sagt, der Wurm ver­hun­gert Dir noch. Frei­lein – un­se­reens – weeß Gott, mer hat sel­ber sei­ne lie­be Not. Nu liegt se mit­’n Blut­hus­ten schon an de vier Mo­nat – keen Ver­dienst un nischt nich – da is so ’n Klee­nes bal­de hin. – Ne, großer Gott, dass mir so was pas­sie­ren muss in mei­nem Hau­se.«

      »Ich will kom­men«, mur­mel­te Aga­the. »Heut noch. Was muss man tun, da­mit das Kind nicht … Mein Gott, ich ahn­te nicht, dass so et­was ge­sche­hen könn­te!«

      »Ach Frei­lein –« sag­te Dor­te grim­mig, »die ar­men Leu­te – da fragt kei­ner nach, ob die sich die See­le aus­’n Lei­be heu­len.«

      Die Alte er­bot sich, mit dem To­ten­grä­ber zu re­den und al­les Nö­ti­ge zu be­sor­gen. Krie­chen­de De­mut wech­sel­te mit lis­ti­ger Schlau­heit im Aus­druck ih­res Ge­sich­tes. Ver­trau­en­er­we­ckend schi­en sie nicht, doch muss­te man sich wohl ih­rer Hil­fe be­die­nen.

      »Dor­te«, sag­te Aga­the be­drückt, »wir wol­len Mama nichts von den Sa­chen sa­gen. Ich will erst se­hen, wie al­les steht.«

      Die alte Kö­chin murr­te et­was Un­ver­ständ­li­ches.

      Vier Jah­re la­gen zwi­schen heut und dem Abend, als Wie­sing mit ih­rer Lade und dem Dienst­buch, dem Vier­tel­jahrs­lohn und den bun­ten Bil­der­chen aus ih­rer Kam­mer schluch­zend ab­zog.

      Vie­le Herr­schaf­ten be­ur­teil­ten ja die Lieb­schaf­ten ih­rer Mäd­chen nicht so streng. Das war der Rä­tin un­be­greif­lich. Wu­trows hat­ten eine Kö­chin schon zwei­mal wie­der in Dienst ge­nom­men. So ein Frau­en­zim­mer um sich zu ha­ben – ein gräu­li­cher Ge­dan­ke! Sie koch­te al­ler­dings vor­züg­lich.

      Nun – Frau Wu­trow … man war ver­wandt durch die Kin­der und kam in Höf­lich­keit und Frie­den mit­ein­an­der aus, aber des­we­gen mit al­lem ein­ver­stan­den zu sein, was Frau Wu­trow tat, das konn­te nie­mand ver­lan­gen. Die Wu­trow drück­te oft ein Auge zu, wo der ma­te­ri­el­le Vor­teil ins Spiel kam. Aga­the hat­te kein Wort für Wie­sing ein­ge­legt. Das Mäd­chen war ihr un­an­ge­nehm durch die Er­fah­rung, die sich an ihre Per­son knüpf­te.

      Aga­the ging lang­sam die ein­för­mi­ge, von ho­hen schmut­zi­gen Häu­sern be­setz­te Stra­ße hin­ab, die nach der Stadt­gren­ze führ­te, wo die große In­fan­te­rie­ka­ser­ne lag. Hier wa­ren die Schau­fens­ter nicht mehr ele­gant und glän­zend, son­dern mit ge­schmack­lo­sem Plun­der voll­ge­stopft. Re­stau­ra­ti­on dräng­te sich an Knei­pe und wie­der die­se an Wurst­kel­ler und arm­se­li­ge Obst­hö­ke­rei­en, wo die Marssöh­ne sich ihr Früh­stück hol­ten. Die Kin­der auf den Fuß­stei­gen spiel­ten Sol­da­ten, Trupps von Mi­li­tär zo­gen aus und ein.

      Aga­the fand nach ei­ni­gem Su­chen das Haus, wo die Krä­mern woh­nen soll­te. Auf der Schwel­le hock­te ein blas­ses Kind mit ei­nem Säug­ling auf dem Arm, es starr­te Aga­the neu­gie­rig an.

      Im Flur führ­te rechts eine Glas­tür mit ein paar Stu­fen zu ei­ner De­stil­le. Der Haus­flur war wie ein fins­te­rer, übel­rie­chen­der Sch­lund. Aga­the tapp­te sich zu der stei­len Trep­pe und be­gann hin­auf­zu­stei­gen. Sie las müh­sam in der spär­li­chen Be­leuch­tung die Schil­der an den Tü­ren. Stei­ler und ge­fähr­li­cher, schlüpf­rig von feuch­tem Schmutz wur­de die Trep­pe. In trau­ri­gen Ge­dan­ken hat­te Aga­the nicht dar­auf ge­ach­tet, wie hoch sie ge­stie­gen, und wuss­te nun nicht, an wel­cher der vie­len Tü­ren sie klin­geln oder klop­fen soll­te, denn hier gab es kei­ne Schil­der mehr. Da sah sie, dass das Kind von der Tür­schwel­le ihr nach­ge­kom­men war. Es hin­k­te und schlepp­te doch den schwe­ren Säug­ling.

      »Kannst Du mir sa­gen, ob hier Frau Krä­mern wohnt?«

      Es ant­wor­te­te nicht.

      Aga­the klopf­te end­lich aufs Ge­ra­te­wohl. Ein Mann in ei­nem wol­le­nen Hemd öff­ne­te.

      »Frau Krä­mern?« frag­te Aga­the schüch­tern, »oder Lui­se Gro­ter­jahn?«

      »Die? Zu der wol­len Se?«

      Eine höh­ni­sche Ver­ach­tung drück­te sich in sei­nem Ton aus. »Da drü­ben.«

      Er starr­te ihr nach, bis sie hin­ter der be­zeich­ne­ten Tür ver­schwun­den war. Das hin­ken­de Kind dräng­te sich mit Aga­the hin­ein.

      »De Krä­mern is nich da«, sag­te das Kind nun.

      »Aber ich möch­te Lui­se Gro­ter­jahn spre­chen.«

      Das klei­ne Mäd­chen wies schwei­gend auf eine in­ne­re Tür.

      Aga­the trat in eine schrä­ge Dach­kam­mer. Sie ent­hielt wei­ter nichts als ein Bett und einen Holz­sche­mel. Das Licht fiel aus ei­ner Luke in der De­cke ge­ra­de über die Kran­ke auf dem Stroh­sack. Sie lag re­gungs­los, Aga­the glaub­te, sie schla­fe, weil sie den Kopf nicht wen­de­te, als sie ein­trat. Doch ihre Au­gen stan­den of­fen und blick­ten auf die graue Wand am Fuß­bo­den des Bet­tes – wenn man die­ses gleich­gül­ti­ge Star­ren einen Blick nen­nen konn­te.

      Erst als Aga­the dicht ne­ben dem Bett stand und ihre Hand lei­se und weich auf die des kran­ken Mäd­chens leg­te, als sie herz­lich sag­te: »Wie­sing, ar­mes Wie­sing«, wand­ten sich die glanz­lo­sen Au­gen ihr zu.

      Aga­the hat­te sich ein­ge­bil­det, Wie­sing wür­de sich freu­en, sie zu se­hen. Aber die Kran­ke lä­chel­te nicht. Sie wein­te auch nicht. Ihre Züge blie­ben ganz un­be­wegt.

      Aga­the dach­te an ihr run­des Kin­der­ge­sicht, das ge­sund und fröh­lich in die Welt ge­blickt hat­te. Die Ge­sund­heit war da­von­ge­wischt – es trug eine lei­chen­haf­te Far­be mit grün­gel­ben Schat­ten um den Mund und um die Au­gen, und es war sehr ab­ge­ma­gert. Aber das war es nicht, wo­durch Aga­the so tief er­schüt­tert wur­de. Es war die un­er­mess­li­che tote Gleich­gül­tig­keit, die dar­auf ruh­te.

      Sie ver­wun­der­te sich, dass die­ses We­sen über­haupt noch um Hil­fe ge­ru­fen hat­te.

      Die Trä­nen stürz­ten Aga­the vor Weh aus den Au­gen. Sie beug­te sich und küss­te das Mäd­chen auf die Stirn. Dann setz­te sie sich zu ihr auf den Bett­rand, nahm ihre Hand und lieb­kos­te sie lei­se.

      Wie­sing ließ al­les schwei­gend mit sich ge­sche­hen.

      »Dank auch, dass Sie ge­kom­men sind«, mur­mel­te sie nach ei­ner lan­gen Wei­le.

      »Wie­sing – warum hast Du nicht eher ge­schickt?«

      »Die Frau Rä­tin wa­ren so böse.«

      »Ach, das ist ja lan­ge her – das ist ja längst ver­ges­sen.« Aga­the wuss­te, dass sie log. Ihre Mut­ter war im­mer noch böse.

      »Wie­sing – warum bist Du denn nicht wie­der in Dienst ge­gan­gen?«

      »Ich war im­mer schwäch­lich – das Klei­ne kam so schwer. Und dann war


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