Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
den Wert, den er aufs Essen legte – an alles dies gewöhnte Agathe sich mit sanfter Freude. Jede Unvollkommenheit kam ihr fast wie eine neue Garantie für ihre Zukunft vor.
Die Mädchen müssen nehmen, was ihnen geboten wird.
Ihr Los wird ähnlich sein, wie das ihrer Mutter, ihrer Freundinnen. Sie wird eben in ihrem Kreise bleiben. Eine Beamtenfrau – sie kennt das ganz genau. Sie kennt eine Menge von Beamtenfrauen, und alle denken und tun und reden und erleben so ziemlich dasselbe. Was sie in der Seele trug von Keimen zu köstlichen seltenen Blüten, das würde da wohl verborgen bleiben. – Aber wer sagt ihr denn, dass die edlen Kräfte, das Streben nach freier Größe nicht eine vermessene, törichte Selbsttäuschung gewesen?
War sie ihrer ersten unglückseligen Liebe treu geblieben? – Nein.
War sie ihrem Heiland eine treue Magd geworden? – Nein.
Schließlich war sie doch nichts Besseres, als all die anderen Mädchen auch.
Nur nicht mehr ausgeschlossen daneben stehen, neben den tiefen, heiligen, reifenden Erfahrungen des Lebens.
*
Im Wilhelmsgarten, beim Gartenkonzert wollten sie sich treffen. Der Landrat hatte versprochen, von Evershagen hereinzukommen.
Mama wurde von ihrer Migräne befallen. Und weil Papa bei der Sonnenglut auch lieber zu Haus blieb, schickte Frau Heidling zu Eugenie. Aber Eugenie schlug die Bitte, Agathe zu begleiten, übellaunig ab. Warum hatte man sie nicht zu dem Ausflug nach Evershagen aufgefordert? Als ob sie sich den ganzen Tag zu ihrer Schneiderin stellte! Es schien, dass Agathe es auf den Landrat abgesehen hatte – Mama Heidling entschuldigte sich so wunderlich konfuse wegen der Evershagener Geschichte. Wenn sie sich da nur nicht wieder Dummheiten in den Kopf setzte! Solche Leute, wie der Landrat Raikendorf, die Carrière machen wollen, nehmen eine Siebzehnjährige – wenn’s geht, adlig – mit Vermögen – oder eine junge Witwe. Lieber Gott, die arme Agathe war doch eigentlich über das Heiratsalter hinaus. Gelegentlich musste sie dem Landrat mal auf den Zahn fühlen, damit das gute Kind sich nicht blamierte. Vielleicht konnte man ihm vorschlagen, auch nach Heringsdorf zu kommen. Das wäre eigentlich ziemlich amüsant … Aber heute? – Bildet Euch doch nur nicht ein, dass der Landrat bei der Hitze kommt! Gebt die Idee auf!
Agathe gab die Idee nicht auf. Sie war seelensfroh, dass Eugenie sie nicht begleiten wollte. Tapfer versuchte sie ihr Heil bei Wendhagens – die waren auch bei zwanzig Grad zu jedem Vergnügen bereit. Mit Lisbeth fühlte sie sich viel sicherer und munterer als unter Eugeniens scharfen Beobachteraugen. Und einmal der liebevollen Fürsorge ihrer Mutter entflohen zu sein – ja – schrecklich! – aber es war ihr jedes Mal ein kleines Fest.
Raikendorf würde sie nach Haus bringen, denn Wendhagens wohnten in der Vorstadt. Da hatten sie noch einen weiten Weg allein miteinander. Ob er ihr wieder den Arm bieten würde?
Er tat es und nahm den ihren, ohne zu fragen, mit einer heiteren Besitzermiene.
Sie wusste, dass er nun sprechen würde. Sie hatte ihn doch sehr, sehr gern.
Es kam ganz natürlich und war nicht so aufregend, wie sie sich vorgestellt hatte. Er sagte ihr einfach, dass er sie zu seiner kleinen Frau haben möchte, er brauchte gar keine romantischen Worte. Wie zwei gute Kameraden redeten sie davon.
Die Haustür war schon verschlossen. Er half ihr beim Öffnen, und als sie ihm entschlüpfen wollte, hielt er sie im Schatten des Eingangs fest und zog sie an sich.
»Agathe …!« bat er leise.
Ein Kuss – der erste Kuss auf ihre Lippen … Bebende Freude flog durch ihre Sinne … Doch ein Licht erhellte plötzlich den Flur, aus der Parterrewohnung drangen Stimmen und Tritte ihnen entgegen – Agathe fuhr zurück. Raikendorf gab sie frei und zuckte ungeduldig die Achseln. Er presste ihre Hand.
»Auf morgen, Agathe!«
»Auf morgen! Gute Nacht!«
Agathe lief die Treppen hinauf. Wie lieb sie den Mann jetzt hatte! Morgen –
Morgen wird er sie wieder so weich und fest in den Arm nehmen, und sie wird die Augen schließen …
»Mama – meine liebe, liebe Mama! Er kommt – morgen früh – zu Papa … Ach – mein Herzensmütterchen … Ich bin ja so froh! So froh! – Ich dachte ja gar nicht … Ach freust Du Dich auch? – Er ist lieb – nicht wahr? Weißt Du – er … Ich kann’s Dir nicht sagen … wie er zu mir ist – so gut!
Mama – er sprach von seinem Einkommen – ob es reichen würde für uns beide. Ich habe ihm gesagt Du hättest Vermögen … Das durfte ich doch? Du gibst mir doch davon, nicht wahr?«
»Mein Herzchen – was mein ist, ist doch auch Dein!«
»Ich will ja auch sparsam sein! Aber so sparsam! Ach Mama – glaubst Du …«
»Was denn, mein Kind?«
Agathe lachte leise.
»Nichts! Ich dachte nur … Nein – so weit will ich gar nicht denken, sonst werd’ ich noch närrisch vor Freude. Sag’ Du’s Papa. Er wird nichts dagegen haben? Nein – nicht wahr?«
»Was sollte er! Papa schätzt Raikendorf. Er soll höheren Ortes sehr gut angeschrieben sein. – Geh nun, schlaf, mein Liebchen, damit Du morgen hübsch frisch aussiehst! Ach, mein Kind, dass ich Dich hergeben soll!«
Dankbarkeit – tiefe, immer neu in ihrem Herzen quellende Dankbarkeit überflutete gleich einem breiten, stillen, sonnenglänzenden Strom die ganze Empfindungswelt des Mädchens. Dankbarkeit war nun ihre Liebe. Retter, Erlöser nannte sie den Mann in ihrer heimlichen Seele.
Nicht jauchzendes Hinwerfen ihres Selbst in allgewaltige Flammen – kein Aufglühen zu höchster erhobener Schönheit in trunkener Leidenschaft …
Nein – demütiges Empfangen, bescheiden-emsiges Hegen und Pflegen des Glücksgeschenkes – das war, was sie nun einzig begehrte.
Nie – nie wollte sie Raikendorf vergessen, dass er ihr den Abend – die Fülle von freundlichen Hoffnungen gegeben. Ihr ganzes Leben sollte ein Dienen dafür sein. Nicht genug konnte sie sich darin tun, ihn als ihren Herrn zu erhöhen und sich zu erniedrigen. War es möglich, dass es Augenblicke gegeben, in denen sie ihn verachtet – über ihn gehöhnt hatte? Ihn? Dem sie heut die Füße hätte küssen wollen, sie mit ihren Tränen baden und mit ihren duftenden Haaren trocknen?
In der Frühe, als sie das Wohnzimmer betrat, erinnerte sie sich plötzlich an den Abend, an dem ihr Martin Greffinger die sozialistischen Schriften gegeben hatte, um ihr zu helfen.