Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
nach Italien zu kommen.
Auch nahm sie unaufhörlich Musikunterricht. Aber warum sie das tat, war ihr noch weniger klar. Bei ihrer nervösen Befangenheit würde sie es niemals bis zum Vorspielen bringen. Und singen konnte sie schon gar nicht mehr. Seit ihrer Krankheit klang ihre Stimme zum Erbarmen dünn und zitterig. Wollte sie es trotzdem versuchen, so überwältigte sie jedes Mal eine Traurigkeit, gegen die kein Ankämpfen mehr möglich war. Sie fürchtete sich förmlich vor den alten lieben Melodien, aus denen die Geisterstimmen so vieler gestorbener und begrabener Hoffnungen ihr entgegenklangen.
Agathes Lehrerin veranstaltete zuweilen musikalische Abende. Sie verband dabei den doppelten Zweck, mit ihren Schülerinnen ein Examen abzuhalten und sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entledigen.
Auch Agathe wurde schon eine Woche zuvor auf das Dringendste von Fräulein Kriebler gebeten, ihr die Ehre zu schenken.
Es war ein heißer Sommerabend, kurz vor Beginn der großen Ferien.
Alle drei Fenster des möblierten Zimmers mit Schlafkabinett, welches die Klavierlehrerin in einem Hinterhause bei einem Gerichtsschreiber bewohnte, waren weit geöffnet. Dennoch schlug Agathe, als sie aus der Küche der Frau Gerichtsschreiberin in den mit Damen gefüllten Raum trat, eine Luft entgegen, die von dem Geruch von Braten, Käse und Heringssalat durchzogen war. Niemand ließ sich von der Hitze anfechten. Die Stimmen surrten fröhlich durcheinander.
Kleine Backfische in hellen Kleidern, die später singen sollten, saßen vorläufig zusammengedrängt in Fräulein Krieblers Schlafkämmerchen auf dem von einem Reiseshawl bedeckten Bett. Sie machten unter sich Bemerkungen von unehrerbietig jugendlichem Witz über das Buffet, das auf dem Waschtisch arrangiert war.
Das Wohnzimmer wurde von Fräulein Krieblers Kolleginnen und Gönnerinnen eingenommen. Außer Agathe war noch eine ältere Schülerin da, die sich seit zehn Jahren ausbildete, anfangs für die Bühne, dann als Konzertsängerin. Es ging auch das Gerücht, sie sei einmal irgendwo öffentlich aufgetreten.
Für Fräulein Kriebler waren die Musikabende ein Ereignis – eine höchst aufregende Sache. Sie hatte ihre kleinen Zimmer dazu gänzlich umräumen müssen. Die gestickten Decken, mit denen sie Tische und Stühle, die bunten Papierblumen, mit denen sie die Wände geschmückt hatte, überall, wo Fotografien, Bücherbretter, Staubtuchkörbchen und gemalte Sprüche ein Plätzchen freiließen, fanden ungeteilte Bewunderung.
Zwei heiße, rote Flecken auf den spitzen Backenknochen des kränklichen, von ruheloser Leidenschaft verzehrten Gesichtes, lief sie unaufhörlich vom Klavier in die Schlafkammer, flüsterte den jungen Kindern Ermahnungen ins Ohr, ordnete ihre Noten, fragte, ob ihre Gäste vielleicht jetzt schon Tee haben möchten, sie dächte, es wäre besser, wenn er erst später käme – aber wenn sie wollten, dann hätte sie ihre beiden Petroleumkocher bereitgestellt …
Eine dicke, bucklige Lehrerin mit kurzgeschnittenen Haaren hatte schon ein paarmal gefragt, warum sich Fräulein Kriebler nur den Umstand mache? Sie riet jetzt, da sie doch alle beisammen wären, das Konzert nur zu beginnen.
Fräulein Kriebler warf noch einen hilflosen Blick auf eine Dame in Seide, die gerade aufgerichtet im Sofa saß und mit kalten Dorschaugen den zum Instrument getriebenen blonden und braunen seufzenden und sich schämenden Kindern folgte. Sie hatte die meisten der jungen Mädchen unter ihrer mütterlichen Leitung und war daher eine schreckliche und einflussreiche Persönlichkeit in dem Kreise.
Die zitternden, vor Erregung klammen Finger der Lehrerin schlugen an. Dünne, liebe Stimmchen begannen ausdruckslos und ängstlich vor dieser Runde strenger Richterinnen zu ertönen und zu singen von Liebe und Lenz und der seligen Gewalt heimlicher Gluten …
Kaum war das geendet, da rauschten und flatterten die hellen Kleidchen eilig, eilig in die enge Schlafkammer. Und wie vorhin Seufzen und Kichern der Furcht, so nun Seufzen und Kichern der Erleichterung. Es war entsetzlich gewesen! Ach wie gut, dass es vorbei war! Und Erna stahl ein Schinkenbrötchen vom Buffet. Nein, aber – so unverschämt zu sein!
Linchen verschwand hinter der Garderoben-Gardine, die sich infolgedessen unförmig blähte, und aus der ab und zu ihre nackten Arme herausgriffen, bis sie in schief angezogenem Zerlinenkostüm wiedererschien.
Sie sollte mit der Dame, die sich für die Bühne ausbildete, das Duett aus Figaros Hochzeit singen.
Ja – Fräulein Kriebler verstand ihre Gäste zu überraschen.
Sie hatte der losen Gräfin wie dem loseren Kammerkätzchen förmlich so etwas wie Koketterie beizubringen versucht. Man applaudierte natürlich so viel man nur konnte.
Nachdem noch ein paar Klaviervorträge stattgefunden hatten, wurde das Buffet freigegeben. Aus den beiden Petroleumkochern brodelte das Teewasser. Fräulein Kriebler schenkte unaufhörlich ein. Sie schrie der Schar der Backfische, die ihr beim Servieren halfen, ihre Befehle zu. Eine laute Fröhlichkeit griff um sich. Die kleinen Fräuleins im Schlafgemach hörte man kaum noch, seit sie bei den Schinkenbrötchen und dem Flammerie saßen. Jetzt begannen die Lehrerinnen sich zu amüsieren. Sie hatten sich nicht umsonst mit ihren besten Kleidern und weißen Spitzen herausgeputzt – sie wollten nun auch ihr Vergnügen haben! Die rauen tiefen und die scharfen kräftigen Organe der energischen, älteren Mädchen tönten in lebhaften Unterhaltungen durcheinander. Fräulein Kriebler lief zwischen ihren Gästen umher, nötigte zum Zulangen und schrie mit ihrer hohen, leidenschaftlichen Stimme: »Nehmen Sie fürlieb – a gipsy tea! Sie müssen sich selbst bedienen. Meine Lakaien sind auf Urlaub! Ein Löffel fehlt? Es waren doch genug Löffel da! Spülen Sie mal einen Löffel ab, Linchen – ein junges Mädchen muss schnell bei der Hand sein! Nein – entschuldigen Sie nur, Fräulein Heidling – a gipsy tea.«
Die bucklige Lehrerin mit den kurzen, krausen Haaren erzählte, von Asthma pfeifend, die launigsten Geschichten. Ein sehr kurzsichtiges Mädchen ließ vor Lachen den Kneifer in die Majonaise-Sauce fallen. Endlich forderte eine blasse Person mit einer kolossalen Nase und demütigen Augen, die jedermann um Verzeihung für diese Nase zu bitten schienen, die allgemeine Aufmerksamkeit. Sie hatte den Plan, an ihrem gemeinsamen Wohnsitz ein Heim für alleinstehende, invalid gewordene Mädchen zu gründen. Mit vereinten Kräften. Was sagten die Damen dazu?