Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter


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zu­sam­men, we­nigs­tens in den ers­ten Stun­den nach ih­rem Tode. Spä­ter fand Papa sei­ne ru­hi­ge, wür­di­ge Hal­tung wie­der, und Aga­the ver­barg ihre Trä­nen, um ihn nicht noch mehr zu be­trü­ben.

      Ihr gan­zes täg­li­ches Da­sein, ihre ge­rings­ten Hand­lun­gen wa­ren nun gleich­sam über­schat­tet von dem An­den­ken der To­ten. Un­sicht­ba­re Geis­ter­hän­de re­gier­ten im Hau­se und lei­te­ten nach wie vor al­les dem Wil­len und den Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der Da­hin­ge­schie­de­nen ge­mäß.

      Wie zu ih­ren Leb­zei­ten bürs­te­te Aga­the je­den Abend den Tep­pich im Wohn­zim­mer ab und roll­te ihn zu­sam­men, und jetzt fie­len Trä­nen der Sehn­sucht nach der Ver­gan­gen­heit dar­aus nie­der.

      Sie hät­te nun den Haus­halt füh­ren kön­nen, wie sie woll­te. Aber sie fand kei­ne Freu­de mehr an die­sem Ge­dan­ken. Sie lei­te­te ihn auch nicht für sich, son­dern be­trach­te­te ihn als ein ehr­wür­di­ges Ver­mächt­nis der To­ten. Die Verant­wor­tung, wel­che sie über­nom­men hat­te, pei­nig­te sie, und sie hetz­te sich ab in ei­ner fie­ber­haf­ten Tä­tig­keit, da­mit nie­mand ihr vor­wer­fen kön­ne, sie zei­ge sich ih­rer hei­li­gen Auf­ga­be nicht ge­wach­sen.

      XI.

      Aga­the stieg auf den Bo­den. Sie hat­te be­gon­nen, eine In­ven­tur all der Din­ge auf­zu­neh­men, die nun ih­rer Ob­hut un­ter­stellt wa­ren. Zu dem Zweck soll­ten auch die Kis­ten und Kas­ten dort oben un­ter­sucht wer­den. Bei die­ser Ge­le­gen­heit bat Eu­ge­nie, die im Win­ter das von Wal­ter lan­ger­sehn­te Töch­ter­chen zu den zwei Jun­gen be­kom­men hat­te, ihr von den klei­nen Kin­der­sa­chen zu ge­ben, die Mama noch im­mer auf­be­wahr­te. Mama war so ei­gen­sin­nig ge­we­sen in der Be­zie­hung – sie gab nicht ein Stück­chen her­aus. Aber Aga­the nütz­ten die Sa­chen ja doch nichts mehr.

      In­dem Aga­the die letz­te stei­le Trep­pe er­klomm, fühl­te sie plötz­lich, das­sel­be Lei­den, von dem ihre Mut­ter lan­ge Jah­re hin­durch heim­ge­sucht war; thaler­große Stel­len an ih­rem Kör­per, in de­nen ein Schmerz tob­te, als habe ein wü­ten­des Tier sich dort mit sei­nen Zäh­nen fest­ge­bis­sen.

      Ihre Mut­ter wuss­te, warum sie die­se Qua­len litt. Sie – die zar­te Frau – hat­te sechs Kin­der ge­bo­ren, und vier von ih­nen hat­te sie ster­ben se­hen müs­sen. Da war es ja ver­ständ­lich, dass ihre Kräf­te er­schöpft wa­ren und die miss­han­del­te Na­tur sich, räch­te. In ge­wis­ser Wei­se war Mama im­mer stolz auf ihr Lei­den ge­we­sen. Sie trug es wie einen Teil ih­res Le­bens, als die Dor­nen­kro­ne des Wei­bes – ihr von Ewig­keit her vor­be­stimmt.

      Wie kam Aga­the als jun­ges Mäd­chen, das ge­schont und ge­hü­tet war und nie­mals für das Men­schen­ge­schlecht auch nur das Ge­rings­te ge­leis­tet hat­te, zu die­sem schreck­li­chen Erbe? Das war ja ge­ra­de­zu un­na­tür­lich, war wie ein bos­haf­ter Hohn des Schick­sals! Der Gram um ihre Mut­ter?

      War es nicht auch un­na­tür­lich, wenn sie der Tod ei­ner mü­den, al­ten Frau, die ihre Auf­ga­be er­füllt hat­te, mit ei­ner so maß­lo­sen Verzweif­lung er­griff, dass sie in je­dem Au­gen­blick des Al­lein­seins wein­te und wein­te und sich nicht zu fas­sen ver­moch­te?

      So ging es nicht wei­ter! – Sie rich­te­te sich ja zu Grun­de!

      Sie sah es ja – sie fühl­te es!

      Und sie fass­te plötz­lich den Ent­schluss, alle die Schmer­zen des Lei­bes und der See­le durch die Kraft ih­res Wil­lens zu be­zwin­gen. Sie sam­mel­te alle Ener­gie in sich und sta­chel­te sie zum Kampf, rich­te­te sie auf ein Ziel. –

      Sie be­gann zu lä­cheln und sich selbst ein­zu­bil­den, nichts tue ihr weh. Sie raff­te sich auf und ging mit leich­ten, elas­ti­schen Schrit­ten, wie ein glück­li­cher, von Ta­ten­lust über­strö­men­der Mensch an ihre Ar­beit.

      War­me, dump­fe Luft er­füll­te die Bo­den­kam­mer. Aga­the stieß eine Dach­lu­ke auf. Ein Strom von Son­nen­licht schoss her­ein und ver­brei­te­te sich un­ter dem Bal­ken­ge­wirr, zwi­schen all den ver­staub­ten Ge­gen­stän­den, die im Lau­fe der Jah­re hier her­auf­ge­wan­dert wa­ren. Sie blick­te durch das klei­ne Fens­ter­chen. Die Schie­fer­dä­cher der Stadt um­gab ein leich­ter, bläu­lich-gol­de­ner Duft – von Fer­ne leuch­te­te die grü­ne Ebe­ne des frei­en Lan­des mit ih­ren gel­ben Raps­fel­dern und den Blü­ten­bäu­men an den Chaus­seen freund­lich her­über.

      Aga­the be­gann vor sich hin­zu­sum­men:

       Es blüht das ferns­te, tiefs­te Tal –

       Nun, ar­mes Herz, ver­giss die Qual,

       Es muss sich al­les, al­les wen­den …

      Da­bei zog sie eine Kis­te her­vor, schloss auf und knie­te da­vor nie­der. Oben­auf la­gen ihre Pup­pen. Als sie die ver­bli­che­nen, zer­zaus­ten Wachs­köpf­chen wie­der­sah, wur­de sie mit ei­ner ge­walt­sa­men Deut­lich­keit in je­nen Tag zu­rück­ver­setzt, an dem sie sie ein­ge­packt hat­te.

      War es auch eine an­de­re Bo­den­kam­mer, der Son­nen­strahl tanz­te eben­so lus­tig in dem grau­en Staub­wust um­her, und nie­mand hat­te seit­dem die Kis­te ge­öff­net. Un­ter der ro­sen­ro­ten De­cke fand sie, zer­knit­tert und ver­drückt, wie sie es in der glück­se­li­gen Auf­re­gung ih­rer sieb­zehn Jah­re ei­lig hin­ein­ge­steckt hat­te, das fei­ne, spit­zen­be­setz­te Hemd­chen.

      Sie woll­te tap­fer sein – sie woll­te kei­ne Trä­ne wei­nen … Und er­blei­chend in der An­stren­gung, die es sie kos­te­te, pack­te sie has­tig alle die hüb­schen klei­nen Din­ge in ihre Schür­ze, um sie Eu­ge­nie zu brin­gen, wäh­rend sie ganz sinn­los noch im­mer vor sich hin­summ­te:

       Es blüht das ferns­te, tiefs­te Tal –

       Nun, ar­mes Herz, ver­giss die Qual,

       Es muss sich al­les, al­les wen­den …

      Als sie sich auf­rich­te­te, stieß sie an eine an­de­re klei­ne Kis­te. Es klirr­te dar­in wie Glas­scher­ben. Sie war an­ge­füllt mit lee­ren Fläsch­chen, alle von der glei­chen Grö­ße. Da­zwi­schen la­gen Bün­del be­staub­ter Eti­quet­ten. Aga­the nahm eine Hand­voll her­aus – sie tru­gen alle die glei­che In­schrift:

      Heid­lings Ju­gend­born. –

      Das war al­les, was von On­kel Gu­stav auf Er­den ge­blie­ben war.

      Aga­the biss die Zäh­ne in die Lip­pe. Nur nicht die lee­ren Hül­sen ge­schei­ter­ter Hoff­nun­gen so hin­ter sich zu­rück­las­sen!

      Nur tap­fer sein, zu rech­ter Zeit einen Ab­schluss ma­chen!

      Im Ess­zim­mer war­te­te Eu­ge­nie.

      Als sie an­fing, die lie­ben Sä­chel­chen ge­gen das Licht zu hal­ten, schad­haf­te Stel­len mit dem Na­gel zu prü­fen, und ihr vie­les nicht mehr gut ge­nug war, als sie weg­wer­fend be­merk­te: »Müt­zen trägt jetzt kein Kind mehr, die kannst Du Dir pie­tät­voll ein­bal­sa­mie­ren«, hät­te Aga­the sie ins Ge­sicht schla­gen mö­gen. Aber die­se dump­fe Wut war tö­richt – sie muss­te auch über­wun­den wer­den.

      Aga­the leg­te ihr freund­lich bei­sei­te, was sie ge­wählt hat­te. Die Schwä­ge­rin­nen küss­ten ein­an­der, und Frau Heid­ling ju­nior ent­fern­te sich in ih­rer ele­gan­ten Trau­er­toi­let­te mit dem Krepp­schlei­er, der ihr lang


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