MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1). Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1) - Robert Mccammon


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die Sonne auf – aber der Abend blieb eine einzige Versuchung. Warum sonst sollte diese draufgängerische und gierige, von Niederländern aufgebaute und jetzt den Engländern übernommene Stadt mehr als ein Dutzend Schänken ihr eigen nennen, wenn nicht aus Freude an ausschweifender, fröhlicher Runde?

      Der junge Mann, der im Hinterzimmer des Old Admiral allein an einem Tisch saß, suchte jedoch nicht Gesellschaft – weder die von Menschen noch die von Bierhefe. Er hatte zwar einen Humpen dunkles Starkbier vor sich stehen, an dem er ab und zu nippte, aber das war lediglich ein Requisit, um sich der Szene anzupassen. Einem Beobachter wäre aufgefallen, wie er beim Trinken das Gesicht verzog, denn um den Schiffsreiniger des Old Admiral herunterzuwürgen zu können, musste man ein geübter Trinker sein. Es handelte sich hier nicht um sein übliches Lokal. Im Trot Then Gallop, oben in der Crown Street, kannte man ihn gut. Hier jedoch war er nur einen Steinwurf vom Great Dock am East River entfernt, wo die Segelschiffe auf den nächtlichen Strömungen und im Tidenhub flüsterten und seufzten und die Fackeln der Fischerboote rot in der Nebenströmung flackerten. Im Old Admiral trieb der blaue Rauch der Tonpfeifen durchs Lampenlicht, während die Männer nach mehr Bier oder Wein brüllten und das Klackern der Würfel auf den Tischen widerhallte wie Pistolenschüsse vieler kleiner Kriege. Das Geräusch erinnerte Matthew Corbett stets an den Schuss, der das Gehirn von … nun, das war vor drei Jahren gewesen, und es war besser, sich dieses längst verblichene Bild nicht wieder ins Gedächtnis zu rufen.

      Er war erst dreiundzwanzig Jahre alt, aber irgendetwas an ihm wirkte wesentlich älter. Vielleicht war es sein bedachter Ernst, sein nüchternes Auftreten oder auch die Tatsache, dass er bevorstehenden Regen anhand der Schmerzen in seinen Knochen ebenso gut vorhersagen konnte wie ein zahnlos über seinen Brei grummelnder Greis. Um ganz genau zu sein: Er wusste es dank der schmerzenden Rippen unter seinem Herz sowie seiner linken Schulter; Knochenbrüche, die ihm ein als Jack One Eye verrufener Bär zugefügt hatte. Dem Bären hatte Matthew auch die sichelförmige Narbe zu verdanken, die gleich über seiner rechten Augenbraue begann und sich zum Haaransatz nach oben bog. In der Carolina-Kolonie hatte ihm einst ein Arzt gesagt, dass der Damenwelt ein Mann mit einer kühnen Narbe gefiele. Diese Narbe schien die Damen jedoch zu warnen, dass er Schnitter Tod nur knapp von der Klinge gesprungen war; vielleicht haftete seiner Seele immer noch die Kälte der Gruft an. Fast ein ganzes Jahr lang war sein linker Arm nach dem Zwischenfall gefühllos geblieben. Er hatte damit gerechnet, für den Rest seines Lebens einarmig zurechtkommen zu müssen, bis ihm hier in New York ein guter, wenn auch recht unkonventioneller Arzt Armübungen verschrieben hatte – eine masochistische Folter mit einer Eisenstange, an deren Enden Hufeisen angekettet waren –, die er neben heißen Umschlägen und Dehnübungen täglich durchführen sollte. Eines Morgens geschah schließlich das Wunder, dass er seine Schulter wieder ganz drehen konnte – und die weitere Behandlung ließ seine alte Kraft fast unvermindert zurückkehren. Damit endeten die Auswirkungen einer von Jack One Eyes letzten Taten auf dieser Erde, auch wenn der inzwischen tote Bär wohl kaum in Vergessenheit geraten würde.

      Matthews kühlgraue Augen, die wie Rauch zur Dämmerstunde mit Dunkelblau gesprenkelt waren, hatten sich auf einen Tisch an der anderen Seite des Raums gerichtet. Er achtete allerdings darauf, nicht zu auffällig hinüber zu starren, sondern seinen Blick nur wandern, sich kurz darauf heften und dann zurück auf sein Bier gleiten zu lassen. Er bewegte seine Schultern, ließ den Blick erneut schweifen und sich auf den anderen Tisch richten. Die Vorsichtsmaßnahmen waren im Grunde egal. Das Objekt seines Interesses hätte blind und dumm sein müssen, um seine Anwesenheit nicht zu bemerken, und das wahre Böse ist nicht so. Nein, das wahre Böse sprach ungerührt weiter, grinste und schlürfte mit gespitzten Lippen ein schmieriges Glas Wein, stieß aus einer schwarzen Tonpfeife einen Rauchring aus und redete und grinste weiter, während das Spiel unter den Ausrufen und dem Würfelklackern schattenhafter Gestalten weiterging, die brüllten, als wollten sie die Morgendämmerung verjagen.

      Matthew wusste jedoch, dass sich das wilde Gelage nicht nur auf Humor, einem Besäufnis und dem Spielergehabe in dieser Pinte begründete, der sich das Meer gegen die Brust und die Wildnis gegen den Rücken presste. Es lag an dem, von dem niemand sprach. Dem Vorfall. Dem unglücklichen Ereignis.

      Der Maskenschnitzer war der Grund.

      Trinkt nur Wein aus neuen Fässern und blast euren Tabakrauch zum Mond hinauf, dachte Matthew. Heult wie die Wölfe und grinst wie Diebe. Heute Nacht müssen wir alle auf einer finsteren Straße nach Hause gehen.

      Und jeder dieser Männer konnte der Maskenschnitzer sein, überlegte er. Der Maskenschnitzer konnte auch bereits wieder auf dem Weg, auf dem er gekommen war, verschwunden sein, um hier nie wieder gesehen zu werden. Wer wusste das schon? Ganz sicher nicht diese Idioten, die sich heutzutage Wachtmeister nannten und denen der Stadtrat die Autorität verliehen hatte, die Straßen zu patrouillieren. Ihm kam der Gedanke, dass die vermutlich auch irgendwo drinnen saßen, obwohl es warm war und der Mond zur Hälfte schien – dumm waren sie zwar, aber nicht leichtsinnig.

      Matthew nahm einen Schluck von seinem Bier und ließ seinen Blick wieder zu dem Tisch an der anderen Wand wandern. Pfeifenrauch hing in blauen Schleiern, verschob sich mit dem von einer Bewegung oder einem Ausatmen verursachten Luftzug. Drei Männer saßen an dem Tisch. Ein älterer, fett und aufgebläht, und zwei junge, die wie Raufbolde aussahen. Da Raufbolde sich hier nur so tummelten, war das an sich nicht weiter bemerkenswert. Matthew hatte den fetten Blähbalg noch nie zuvor in Begleitung einer der beiden jüngeren Männer gesehen. Sie trugen beide einfache Kleidung, alte Lederwesten über einem weißen Hemd, und die Bundhosen des einen waren an den Knien mit Leder geflickt. Wer waren diese Männer?, fragte er sich. Und was hatten sie mit Eben Ausley zu schaffen?

      Nur sehr vereinzelt und bloß für einen kurzen Moment fing Matthew das Glitzern von Ausleys auf ihn gerichteten schwarzen Augen auf, aber genauso schnell drehte der Mann seinen mit einer weißen Perücke bedeckten Kopf zur Seite und unterhielt sich weiter mit den beiden jungen Männern.

      Kein Betrachter würde darauf kommen, dass sich der jugendliche Corbett mit seinem hageren, langen Gesicht, seinem unordentlichen, feinen schwarzen Schopf und seiner kerzenbeleuchteten, blassen Haut auf einem Kreuzzug befand, der sich langsam, eine Nacht nach der anderen, in Besessenheit verwandelt hatte. Mit seinen braunen Stiefeln, grauen Kniebundhosen und dem einfachen weißen Hemd, das am Kragen und den Handgelenken ausgefranst, aber blütenrein gewaschen war, schien er nicht mehr herzumachen, als sein Beruf als Gerichtsdiener verlangte. Richter Powers würde von diesen nächtlichen Unternehmungen nicht angetan sein, aber Matthew fand sich dazu gezwungen. Denn sein größter Herzenswunsch war es, Eben Ausley am Galgen der Stadt baumeln zu sehen.

      Jetzt legte Ausley seine Pfeife hin und zog die Lampe auf dem Tisch näher an sich heran. Sein Begleiter zur Linken – ein dunkelhaariger Mann mit tief liegenden Augen, der vielleicht neun oder zehn Jahre älter als Matthew sein mochte – sprach leise und ernst. Ausley, ein Hängebackenschwein Mitte fünfzig, hörte konzentriert zu. Schließlich sah Matthew, wie er nickte und in den Gehrock seines vulgären weinlilafarbenen Anzugs fasste. Die Rüschen seines Hemds erzitterten unter dem Druck des Bauchs. Ausleys weiße Perücke war mit aufwendigen Löckchen verziert, die vielleicht zurzeit in London modern waren, hier in New York aber nur wie die Kopfgarnierung eines Gecken wirkten. Ausley förderte aus seinem Rock einen mit Bindfaden umwickelten Bleistift und ein handgroßes schwarzes Notizbuch zutage, das Matthew ihn schon unzählige Male hatte herausziehen sehen. Der Einband war mit Schnörkeln aus Goldblatt versehen. Matthew war bereits der Gedanke gekommen, dass Ausley eine Notizensucht hatte, die seiner Sucht nach Spielen wie Ombre und Ticktack, an die sowohl sein Verstand als auch seine Brieftasche gefesselt zu sein schienen, in nichts nachstand. Mit einem schwachen Lächeln stellte Matthew sich vor, was für Notizen auf jene Seiten gekritzelt wurden: Heute Morgen gut geschissen … bin ein bisschen was losgeworden … oh je, heute einen Nugget verloren … Ausley leckte den Bleistift an und begann zu schreiben. Es schien Matthew, als schrieb er drei oder vier Zeilen. Dann wurde das Notizbuch geschlossen und weggesteckt, und danach auch der Stift. Ausley sagte wieder etwas zu dem dunkelhaarigen jungen Mann, während der andere – gedrungen und mit sandfarbenem Haar, langsam wie ein Ochse mit schweren Augenlidern blinzelnd – einer lauten Partie Bone-Ace in der Ecke zuschaute. Ausley grinste, und das gelbe Lampenlicht sprang ihm förmlich von den Zähnen. Eine Horde Säufer stolperte zwischen


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