H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
waren, die Umrisse einer Hand – einer schlanken, am Boden liegenden Hand. Je länger sie darauf blickten, desto dichter und undurchsichtiger wurde sie. »Hallo!«, rief der Schutzmann, »jetzt wird ein Fuß sichtbar!«
Und so setzte sich diese seltsame Sichtbarwerdung langsam fort, bei den Händen und Füßen beginnend und längs der Glieder langsam die Lebenszentren erreichend. Erst sah man, von kleinen Venen gebildet, die schattenhaften Umrisse der Glieder, dann die Knochen und Arterien, dann Fleisch und Haut, erst als schwacher Nebel und schließlich dicht und undurchsichtig.
Als Kemp sich endlich erhob, sah man auf dem Boden den jammervollen, zerschundenen, gebrochenen Körper eines ungefähr dreißigjährigen jungen Mannes. Er hatte weiße Haare und weiße Augenbrauen – weiß wie ein Albino, nicht durch Alter ergraut – und seine Augen waren rot wie böhmische Granaten. Er hatte die Hände geballt, die Augen waren weit geöffnet und ein Ausdruck von Zorn und Verzweiflung lag auf seinem Gesicht.
»Deckt sein Gesicht zu!«, rief ein Mann, »um Gottes willen, deckt das Gesicht zu!«
Jemand brachte ein Bettuch, und nachdem man den Leichnam damit bedeckt hatte, trug man ihn in ein Haus. Auf einem schäbigen Bett in einer bäurischen, schlecht beleuchteten Schlafstube, von einer unwissenden und erregten Menge umgeben, gebrochen und verstümmelt, verraten und unbeweint, beschloss dort Griffin, der erste Mensch, der es verstand, sich unsichtbar zu machen, Griffin, der genialste Physiker aller Zeiten und aller Völker, sein seltsames und schreckliches, tief unglückliches Leben.
Nachschrift
So endet die Geschichte des seltsamen und bösen Experiments des Unsichtbaren. Und wer mehr von ihm hören möchte, der muss in ein kleines Wirtshaus in Port Stowe gehen und mit dem Wirt dort reden. Das Wirtshausschild ist ein leeres Brett, auf dem nichts gemalt ist als ein Hut und ein Paar Stiefel, und es nennt sich, so wie diese Geschichte sich nennt. Der Wirt ist ein kleiner, dicker Mann mit einer Stülpnase, straffen Haaren und rotgeflecktem Gesicht. Jedem, der reichlich zu trinken bestellt, erzählt er ganz aus eigenem Antrieb alles, was ihm später noch geschah, und wie die Advokaten versuchten, ihm den Schatz, den man bei ihm fand, abzusprechen.
»Als sie schließlich herausfanden, dass sie doch nicht nachweisen konnten, wem das Geld gehörte«, berichtet er, »kamen sie schließlich auf die Idee, mich als Staatseigentum hinzustellen. Sehe ich etwa aus wie ein Staatseigentum, was? Und daraufhin gab mir ein feiner Herr jede Nacht zwanzig Mark dafür, dass ich die Geschichte im Empire-Variete erzählen sollte … einfach so – – mit meinen eigenen Worten.«
Und wer dem Strom seiner Rede ein plötzliches Ende setzen will, der braucht bloß zu fragen, ob nicht in der Geschichte auch drei handgeschriebene Bücher vorkamen. Er gibt zu, dass sie vorhanden waren und erklärt darauf mit vielen Beteuerungen, dass zwar alle Welt glaube, er hätte sie – dass er sie aber, wahrhaftiger Gott, nicht habe! »Der Unsichtbare hat sie genommen und versteckt, als ich ihm durchging und nach Port Stowe lief. Bloß Mr. Kemp hat die Leute auf den Gedanken gebracht, ich hätte sie.«
Er versinkt in Nachdenken, beobachtet einen verstohlen, macht sich nervös mit seinen Gläsern zu schaffen und verschwindet bald darauf vom Schanktisch.
Er ist Junggeselle – hat immer die Neigungen eines Junggesellen gehabt – und es ist überhaupt kein Frauenzimmer im Haus. Nach außen hin zeigt sein Rock stets die gebührende Anzahl von Knöpfen – so wie man es verlangen kann von ihm. Aber in seinem intimeren Privatleben – z. B. an seinen Hosenträgern – hält er sich immer noch mehr an Bindfaden. Er führt sein Geschäft ohne besonderen Unternehmungsgeist, aber mit großem Anstand. Seine Bewegungen sind gemessen; und er ist ein großer Denker. Im ganzen Dorf ist er angesehen um seiner Weltklugheit und achtenswerten Knickrigkeit willen … Eine auffallende Kenntnis der Landstraßen des ganzen südlichen Englands kennzeichnet ihn …
Sonntag morgens – jeden Sonntagmorgen, jahraus, jahrein, während er unzugänglich ist für die Außenwelt, und jede Nacht nach zehn Uhr verschwindet er in seiner Wohnstube hinter dem Schankzimmer mit einem Glas schwach mit Wasser vermischten Branntweins in der Hand; nachdem er es auf den Tisch gestellt hat, verriegelt er die Tür, untersucht die Fensterläden und sieht sogar unter den Tisch. Darauf – wenn er sich überzeugt hat, dass er allein ist – öffnet er den Schrank, einen Kasten in dem Schrank und ein Fach in dem Kasten, zieht drei in braunes Leder gebundene Bücher hervor und legt sie feierlich in die Mitte des Tisches. Die Einbände sind verwittert und grün angelaufen – denn die Bücher haben einmal in einem Graben gelegen, und ein paar der Seiten sind von Schmutzwasser völlig verwaschen. – Der Wirt setzt sich in einen Lehnsessel, und stopft sich langsam eine lange Tonpfeife – immer gierig die Bücher betrachtend. Dann ergreift er eines und fängt an, unter fortwährendem Hin- und Herblättern – es zu studieren.
Seine Brauen ziehen sich zusammen, seine Lippen bewegen sich langsam und mühevoll: »… oben eine kleine Zwei … ein Kreuz und ein … Herrgott! Was das für eine Intelligenz gewesen sein muss!« Nach einer Weile erlahmt sein Eifer; er lehnt sich zurück und blinzelt durch den Pfeifenrauch nach Dingen, die kein anderes Auge zu sehen vermöchte. »Lauter Geheimnisse!«, sagt er. »Die wunderbarsten Geheimnisse!«
»Wenn ich ihnen erst einmal auf den Grund komme – – Herrgott! Ich würd’ es nicht machen wie er! Ich würde – – ah …!«
Und er zieht an seiner Pfeife.
So versinkt er in seinen Traum, den unsterblichen, wunderbaren Traum seines Lebens. Und obgleich Kemp unablässig gesucht und geforscht hat, weiß kein menschliches Wesen außer dem kleinen Wirt, dass die Bücher da sind, mit ihrem unergründlichen Geheimnis der Unsichtbarkeit und einem Dutzend anderer, seltsamer Geheimnisse … Und kein anderer wird von ihnen wissen … bis zu seinem Tod …
ENDE
1 – Mr. Bedford lernt Mr. Cavor zu Lympne kennen
Wie ich mich hier mitten im Schatten des Weinlaubs unter dem blauen Himmel Süditaliens zum Schreiben hinsetze, wird es mir mit einer gewissen Tönung der Verwunderung klar, dass meine Teilnahme an den erstaunlichen Abenteuern Mr. Cavors im Grunde nur die Folge des reinsten Zufalls war. Es hätte jeder sein können. Ich geriet zu einer Zeit in diese Dinge hinein, als ich glaubte, der geringsten Möglichkeit störender Erlebnisse entrückt zu sein. Ich war nach Lympne gegangen, weil ich den Ort für den ereignislosesten in der ganzen Welt gehalten hatte. »Auf jeden Fall«,