Dr. Daniel Staffel 5 – Arztroman. Marie Francoise
Tränen aufsteigen. »Wenn es nur in meiner Macht liegen würde, das zu verhindern.«
Dann war der Anfall endlich vorbei, doch diesmal erholte sich Dr. Daniel nicht mehr davon. Halb besinnungslos dämmerte er vor sich hin, und seine Körpertemperatur blieb konstant bei vierzig Grad stehen. Das Ende war nur noch eine Frage der Zeit…
*
»Ich hab’s!« stieß die Allgemeinmedizinerin Dr. Manon Carisi hervor.
Mit einem Ruck drehten sich Dr. Metzler und Dr. Scheibler zu ihr um. Schon seit Stunden arbeiteten sie wieder im Labor, weil sie einfach nicht gewillt waren, Dr. Daniel, Ines Holbe, Manfred Klein und den kleinen Tobias Doschek aufzugeben, obwohl es um alle vier denkbar schlecht stand. Manfred Klein lag inzwischen ebenfalls im Koma, und bei Dr. Daniel und dem kleinen Tobias würde dieser Zustand auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.
»Antikörper!« fügte Manon jetzt hinzu, als wäre das die Lösung aller Rätsel.
»Antikörper?« wiederholte Dr. Metzler gedehnt. »Was soll das heißen?«
»In den Körpern unserer vier Sorgenkinder werden gegen das Medikament Antikörper gebildet«, erklärte Manon. »Das heißt, daß die körpereigenen Abwehrkräfte nicht die tödlichen Viren, sondern die Wirkstoffe des Medikaments als körperfremd empfinden und angreifen.
Dr. Scheibler schlug sich mit einer Hand an die Stirn. »Meine Güte, daß wir da nicht früher draufgekommen sind.«
Doch Dr. Metzler blieb zurückhaltend. »Ich glaube, wir sollten nicht zu euphorisch sein. Ich habe noch nie gehört, daß ein Patient Antikörper gegen ein Medikament entwickelt hat.«
Manon zuckte die Schultern. »Ich habe auch noch nie eine Krankheit wie diese kennengelernt. Wolfgang, wir haben keine Zeit mehr. Ines Holbe kann jeden Tag sterben, Manfred Klein liegt im Koma, und Robert und der kleine Tobias stehen kurz davor. Lassen Sie es uns versuchen.«
Aufmerksam blickte Dr. Metzler sie an. »Sie denken an Immunglobuline. Das ist riskant, Manon. Wenn die körpereigenen Abwehrkräfte ausgeschaltet werden, können die Viren innerhalb weniger Stunden den Tod herbeiführen.«
»Unsere Patienten liegen im Sterben, Wolfgang«, mischte sich Dr. Scheibler ein. »Wir haben also nichts mehr zu verlieren.«
Dr. Metzler atmete tief durch. »Also schön, ich bin einverstanden.«
Wie auf Kommando standen die drei Ärzte auf. Jetzt waren keine Worte mehr nötig. Nur Schnelligkeit zählte noch. Dr. Metzler kümmerte sich zuerst um Ines Holbe, dann ging er zu Manfred Klein, während Manon bei Dr. Daniel war und Dr. Scheibler dem kleinen Tobias die vielleicht lebensrettenden Immunglobuline spritzte.
»Wenn es nun doch nicht hilft?« fragte Manon in banger Erwartung.
»Dann werden sie heute abend alle tot sein«, antwortete Dr. Metzler, und seine Stimme bebte dabei ein wenig.
»Sie würden so oder so sterben«, entgegnete Dr. Scheibler. »Vielleicht nicht heute, aber innerhalb der nächsten Tage.«
»Ein schwacher Trost«, murmelte Manon, dann sah sie ihre beiden Kollegen an. »Wann ist die nächste Spritze fällig?«
»Morgen früh«, antwortete Dr. Metzler. »Wenn sie dann noch am Leben sind.«
*
Die Besserung trat nur sehr zögernd ein. Der kleine Tobias Doschek war der erste, der nach der Behandlung mit Immunglobulinen plötzlich auf das japanische Medikament ansprach. Langsam, aber stetig sank sein Fieber, und nach vier Tagen konnte Dr. Metzler endlich Valerie Doschek mitteilen, daß das Gröbste überstanden war. Die Blutanalyse hatte ergeben, daß das Baby gesund war. Natürlich war es nach der ausgestandenen schweren Krankheit entsetzlich geschwächt, doch diesen Zustand würden die Zeit und eine zärtliche Betreuung durch die Mutter heilen.
Bei den erwachsenen Patienten dauerte es länger, doch auch hier war eine deutliche Besserung bald nicht mehr zu leugnen. Ganz allmählich sank das Fieber, doch die Lähmungen bildeten sich nicht zurück, was Dr. Metzler große Sorgen bereitete. Täglich nahm er Blutuntersuchungen vor, die schließlich zeigten, daß Dr. Daniel, Manfred Klein und sogar die am schwersten betroffene Ines Holbe auf dem Weg der Besserung waren. Doch obwohl die Viren nicht mehr in ihren Körpern wüteten, blieben die Lähmungen bestehen.
Bei Ines waren sie am schlimmsten. Ihre beiden Arme waren gelähmt, und von der Hüfte an abwärts hatte sie ebenfalls kein Gefühl.
»Was soll ich noch mit diesem Leben«, schluchzte sie verzweifelt, als Dr. Metzler wieder einmal ihre Reflexe testete. »Ich kann nicht selbst essen und mich nicht waschen. Nicht einmal auf die Toilette kann ich gehen!« Und dann kam plötzlich die Erinnerung an den jungen Japaner, in den sie sich verliebt hatte. »Was ist mit Katsumata? Er hatte doch die gleiche Krankheit wie ich. Liegt er auch so jämmerlich da?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Dr. Metzler. »Aber ich kann mich erkundigen, wenn Sie mir Namen und Adresse des jungen Mannes geben können.«
Noch am selben Tag nahm Dr. Metzler mit der japanischen Klinik, an der er einst gearbeitet hatte, Kontakt auf und versuchte etwas über das Schicksal von Katumata Nakashida herauszubekommen. Bereits am Nachmittag hatte er für
Ines gute Nachrichten.
»Der junge Mann lebt, und ich glaube, er ist schon auf dem Weg nach Deutschland«, erklärte er.
Doch Ines brach in Tränen aus. »Er soll mich nicht so sehen!«
»Da beugte sich Dr. Metzler zu ihr hinunter und berührte ihr Gesicht. »Frau Holbe, Ihr Katsumata lag noch vor einer Woche genauso da wie Sie – gelähmt und hilflos. Meine Erfahrungen mit dieser Krankheit waren bisher noch lückenhaft, jetzt aber weiß ich, daß sich die Lähmungen auch bei Ihnen zurückbilden werden. Es braucht nur alles seine Zeit.«
Da huschte ein glückliches Leuchten über Ines’ Gesicht, was um so rührender wirkte, weil in ihren Augen noch immer Tränen glitzerten.
»Ich möchte Sie umarmen, Herr Doktor«, gestand sie leise.
Dr. Metzler lächelte. »Das holen Sie nach, wenn es Ihnen bessergeht.«
*
Als Dr. Daniel zum ersten Mal wieder selbst essen konnte, hätte er vor lauter Glück am liebsten gleich die ganze Welt umarmt. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so nah an der Schwelle zum Tod gestanden. Eine Weile hatte er mit dem Schicksal gehadert, weil es im Begriff war, ihn viel zu früh aus diesem Leben zu nehmen, doch dann hatte er sich intensiv damit auseinandergesetzt, was ihn da drüben wohl erwartete. Gedanken an seine verstorbene Frau waren aufgekommen, und er hatte sich gefragt, ob er ihr im Jenseits wiederbegegnen würde. Von klinisch Toten hatte er schon solche Dinge gehört. Doch jetzt rückten diese Gedanken wieder in weite Ferne. Dem unermüdlichen Einsatz von Dr. Metzler, Dr. Scheibler und nicht zuletzt Manon Carisi war es zu verdanken, daß er am Leben war – und nicht nur er. Natürlich hatte, Dr. Daniel inzwischen erfahren, daß der kleine Tobias ebenfalls in höchster Lebensgefahr geschwebt hatte. Und es freute ihn von Herzen, daß Ines Holbe und Manfred Klein diese schwere Krankheit ebenso überstanden hatten wie Tobias.
»Hallo, Papa!« Die fröhliche Stimme seiner Tochter Karina riß ihn aus seinen Gedanken.
Im nächsten Moment war sie schon an seinem Bett und umarmte ihn. Stefan, der ihr gefolgt war, hielt sich in dieser Hinsicht ein wenig zurück, doch auch ihm war deutlich anzusehen, wie glücklich er war, weil sein Vater wieder ganz gesund werden würde.
Da ergriff Dr. Daniel auch schon seine Hand.
»Stefan, ich wollte es dir schon längst sagen«, begann er. »Daß du alle deine Pläne umgeworfen hättest, um mir den nötigen Frieden zum Sterben zu geben…«
»Bitte, Papa, hör auf«, fiel Stefan ihm ins Wort. »Ich weiß, wie sehr dein Herz an der Praxis hängt, und es wäre für mich ganz natürlich gewesen, dein Erbe anzutreten.« Er lächelte. »Aber ich bin froh, daß ich es nicht tun muß – nicht wegen der Praxis, sondern wegen dir.«
Liebevoll