Melancholie. László F. Földenyi

Melancholie - László F. Földenyi


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      László F. Földényi

       MELANCHOLIE

      Aus dem Ungarischen

      von Nora Tahy

      Durchgesehen

      von Gerd Bergfleth

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       Marianne Bara gewidmet

       INHALT

       Vorwort

       Die Eingeweihten

       Das Gefängnis der Temperamente

       Die Ausgesperrten

       Die Herausforderung des Schicksals

       Die Bestechlichen

       Der frühe Tod der Romantiker

       Liebe und Melancholie

       Die Krankheit

       Die Angst vor der Freiheit

       Die Leere der Schöpfung

       Anmerkungen

       Literaturverzeichnis

       Personenregister

       VORWORT

      Der Beginn unter Qualen zeugt von der Schwierigkeit des Unterfangens.

      Unter der Hinzuziehung von Begriffen müssen wir über etwas sprechen, was die Begriffe erst angreift, um sie dann, einer Fata Morgana gleich, jeder Erreichbarkeit zu entreißen. Es ist die Grammatik der Wörter, der Klang der Sätze, an die wir uns um Hilfe wenden, doch versuchen sie gerade das zu thematisieren, übersichtlich und einkreisbar zu machen, was diesen Wörtern und Sätzen vorausgeht. Die Sprache ist klangvoll, doch muss sie früher oder später verstummen: Auch sie ist ein Kind des Schweigens. Die Wörter, sie sagen weniger, als wir durch sie auszudrücken wünschen – sie leiten uns fehl, entführen unsere Gedanken ihrem eigentlichen Ziel, und zwar solcherart, dass wir beim Sprechen vielleicht selbst erstaunt feststellen mögen: Wir wollten eigentlich etwas anderes sagen, als die Wörter, die Intonationen und die sprachlichen Strukturen glauben machen. Das Wort sagt weniger, als wir mitteilen möchten – doch die Tatsache, dass sich die Missverständnisse niemals aus unserem Leben verbannen lassen, weist darauf hin, dass es sich hier nicht lediglich um eine technische Unvollkommenheit handelt, sondern um das ureigenste Paradoxon von Sprache, des Sich-Mitteilens: Die Wörter verraten wenig, weil sie zu viel Inhalt in sich tragen; gleich was wir sagen, worüber wir reden, unsere Wörter drücken nicht nur das aus, was wir mitzuteilen wünschen. In ihren Tiefen hält sich eine andere, nicht mitteilbare Welt verborgen, die aber gerade auch diesen Wörtern Leben gibt. Selbstverständlich können wir über diese andere Welt Bemerkungen fallen lassen – aber damit haben wir sie nicht liquidiert, sondern lediglich ihre Grenzen ein wenig hinausgeschoben, indem wir den für uns niemals erreichbaren Horizont etwas erweitert haben. Wörter, Begriffe, der Wichtigkeit des Sprechens bereitet all dies keinen Abbruch – doch muss das Wort, um wahrhaftig Bedeutsamkeit und Bedeutung zu erlangen, mit seinem eigenen Ausgeliefertsein rechnen, seiner eigenen Zerbrechlichkeit gerecht werden. Der Held einer »exemplarischen« Novelle von Cervantes hatte ein Wundermittel eingenommen, um daraufhin dem Gefühl zu erliegen, dass seine Seele sowie sein Körper aus durchsichtigem Glas seien – und je stärker die Angst und der Wahnsinn in ihm überhandnahmen, umso mehr verstärkten sich bei ihm auch Klarsicht und Urteilsvermögen. Und so verhält es sich in etwa auch mit den Wörtern.

      Diese eingestandene Schwäche ist tatsächlich eine Schwäche – dies muss festgehalten werden, bevor das mit den Begriffen durchgeführte Spiel es uns vergessen ließe. Im vorliegenden Falle ist dies vielfach richtig. Und eine Folge dieser Unzulänglichkeit der Begriffe ist unter anderem die Melancholie; diese Unzulänglichkeit ist aber nicht bestimmbar so oder so geartet, sodass man ihre Hinfälligkeit ausmerzen und mit der Zeit vielleicht aufheben könnte, sondern etwas, ohne das eine Begriffsbildung unvorstellbar ist. Und wenn von dem Klarsehen und dem Maß der Endgültigkeit, auf denen vielerlei Einsichten beruhen, die eine Säule gebildet wird, dann die andere von der Trübheit der Unfassbarkeit, der Unbegreiflichkeit und der Unbefriedigtheit. Vielleicht daher die Traurigkeit, die den Grund einer jeden den Anspruch auf Endgültigkeit erhebenden Formulierung durchzieht, die Untröstlichkeit, die auch die geschlossensten Gebilde angreift.

      Unsere Kultur verwendet in diesem Zusammenhang gern den Begriff der Negativität, des Mangels, doch fragt sich, und dafür liefert uns ebenfalls die Melancholie den Ansatz, ob dasjenige als »Negativität«, als Mangel angesehen werden kann und darf, was aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken ist. Aus einer Art eschatologischer Sicht höchstwahrscheinlich, doch, und auch daran erinnert uns die Melancholie, ist der eschatologische Glaube selbst eine Erscheinung des zur Verdüsterung neigenden menschlichen Seins; und dürfen wir denn nach göttlicher Art aus unserer menschlichen Grundsituation heraus strenge Grenzen zwischen Negativität und Positivität ziehen? Extreme, äußerste Punkte und Grenzen, die gibt es; wird dies doch nicht nur durch unsere Endlichkeit in Gestalt der Vergänglichkeit oder des Todes bezeugt, sondern auch durch jene Grenzen, an die jedes menschliche Bestreben früher oder später gelangt. Es umgrenzen uns aber die letzten, äußersten menschlichen Grenzen nicht gleichsam kreisförmig von außen her, sondern sie sind ureigenste, innerste, zu jeder Zeit und an jedem Ort zu entdeckende Knotenpunkte unseres Seins. Deshalb ist, was von außen als Mangel erscheint (gemeint ist damit, dass die menschliche Existenz begrenzt und nicht allmächtig ist), von innen her als Vollendung zu verstehen; was mit den Augen Gottes gesehen Hinfälligkeit ist, ist nach menschlichem Maße innere Kraft, Fähigkeit. Die Untröstlichkeit ist auch im tiefsten Klarsehen, das Dunkel auch im genauesten Gedankengang enthalten. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich gegenseitig ausschalten. Denn wir durchleben unser Leben voneinander abweichend, unvergleichbar, auf einzigartige Weise, und es gibt keine zwei Menschen, in denen Klarsicht und Dunkel, die sich auf das Unendliche richtende Sehnsucht und das zur letztendlichen Hinfälligkeit verdammte Sein in gleichem Verhältnis aufgeteilt wären. In diesem findet sich, wie es erneut von der Melancholie angedeutet wird, die Voraussetzung des Lebens, aber auch des Todes. Nicht die Schwäche und nicht die Kraft, nicht das Klarsehen und nicht das Dunkel ist das, woran wir sterben, sondern die Tatsache, dass ein jedes derselbe Mangel des anderen und Vollendung seiner selbst ist.

      Ja, die Melancholie mahnt immer wieder erneut; doch ihre Mahnung kommt nicht von außen, sondern spricht von innen her zu uns. Sie bedarf aber nicht unbedingt der Worte. Sie ist gleichzeitig diesseits und jenseits der Worte gegenwärtig. Sie bringt jene Worte, die sie schließlich ausnehmen, hervor. Damals, als sie einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung zum ersten Mal in Worte gefasst wurde, waren die Geburtswehen, die nicht nur das Auf-die-Welt-Kommen der Melancholie, sondern auch des Menschen begleitet hatten, schon in Vergessenheit geraten. Nun steht die Melancholie


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