Melancholie. László F. Földenyi

Melancholie - László F. Földenyi


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sein versuchten – doch hatte diese Modeströmung wenig mit der Melancholie an sich gemein. Da aber in diesen Worten, wie allgemein in allen verbalen Erscheinungen, das Äußerste an Irrungen und Wirrungen enthalten ist, ist das sich auf die Melancholie beziehende Gerede ein ausgesprochen schauerliches Unterfangen. Es bedarf eines peniblen Gleichgewichts der Begriffe: Man darf nicht nur über das reden, worum es geht, sondern muss auch die Frage des »Wie« eines solchen Sprechens zum Gegenstand machen. Diese Spirale aber ist unendlich: Über das als Gegenstand behandelte »Wie« muss man auch in irgendeiner Form Wörter bilden. Und diese Form beansprucht wiederum, dass man sie als Gegenstand behandle. In dem Fall von einander aufreibenden und einander abnutzenden Gegenständen und Formen gibt es keine endgültige Lösung: Es geht um die Melancholie, obwohl es doch eigentlich thematisch um die melancholische Grundlage der Wörter gehen müsste. Es ist unser eigener Haarschopf, den wir zur Errettung unserer selbst zu packen versuchen.

      Zu jener Zeit, da die Melancholie zum ersten Mal als Begriff erschien, war über sie schon alles gesagt worden. Doch von Anbeginn an ist die Ungenauigkeit des Begriffs, an der auch spätere Epochen nichts ändern konnten, auffallend. Es gibt keine eindeutige und genau treffende Bestimmung der Melancholie. Die Geschichte der Melancholie ist auch die Geschichte einer nie zum Abschluss kommenden Präzisierung der Begriffsprägung, und gerade daraus ergibt sich der Zweifel: Sprechen wir über die Melancholie, so ist sie gar nicht Gegenstand unseres Sprechens, es handelt sich vielmehr um einen Versuch, mit den über sie geprägten Begriffen unsere eigene Lage zu erkennen. Somit vervielfachen sich die Qualen eines Einstiegs, denn wo liegt denn der Beginn? Dort, wo das Thema als Begriff zum ersten Male auftaucht (in der Antike), oder dort, wo unser eigenes Leben sich an den Begriff bindet, um sich nie wieder von ihm zu lösen? Dort, wo sie sich der Form des Begriffs unterwirft, oder dort, wo unser Leben vor dem Begriff zurückschreckend gleichsam zu ihr gelangt? Wir haben gesagt, dass sie dort, wo sie uns erstmals gegenübertritt, mit aller Macht präsent ist. Die Vorsicht, und vielleicht auch die Angst, die am Grunde jeder Vorsicht in uns arbeitet, fordert den Beginn beim Worte, verlangt also, dem Schicksal des Begriffs auf der Spur zu sein. Wenn sich nämlich, wie wir angenommen haben, die Melancholie, die die Worte angreift und sie der Lüge überführt, sowieso in den Worten verborgen hält, dann können wir auch die Fragen unseres eigenen Lebens sowie unsere Zweifel verständlicher, wenngleich nicht antwortfertig, formulieren.

       DIE EINGEWEIHTEN

       Διὰ τί πὰντες ὅσοι περιττοὶ γεγόνασιν ἄνδρες ἢ κατὰ φιλοσοφίαν ἢ πολιτικὴ ἢ ποίησιν ἢ τέχνας φαίνονται μελαγχολικοὶ ὄντες

      »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?«1 Dieser Satz, mit dem der 30. Abschnitt der in der Schule des Aristoteles zusammengestellten Problemata Physica beginnt, scheint an den Anfang unseres Gedankengangs zu gehören, und an seiner Gültigkeit hat er bis in die heutige Zeit nichts eingebüßt. Und obzwar er aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder jenes Theophrast von Eresos stammt, der nach Diogenes Laertios das erste, jedoch verschollene Buch über die Melancholie geschrieben haben soll, hielt die Allgemeinheit seit der Antike daran fest, die Autorschaft Aristoteles zuzuschreiben. Bleiben auch wir dabei. Die Begriffe der »herausragenden Persönlichkeit«, der »Außerordentlichkeit« und der »Melancholie« werden hier zum ersten Mal, was zunächst erstaunlich wirken kann, miteinander verwoben und in Zusammenhang gebracht. Die Melancholie, wortwörtlich die schwarze Galle (μελαινα χολή), war im ursprünglichen Sinne des Wortes ein Charakteristikum des Körpers; die Vorzüglichkeit eines Philosophen, Politikers oder Künstlers liegt aber im Geiste, und dies beides, die Zweiheit von Körper und Seele, lässt sich der neueren Anschauung gemäß höchstens mithilfe einer Metapher verbinden und zusammenziehen. Diese Metapher aber fehlt: Die Entsprechung ist bei Aristoteles nämlich direkt; aus diesem Grunde müssen wir versuchen, eine innere Beziehung der beiden Begriffe herauszuarbeiten. Die Begriffe der herausragenden Persönlichkeit und der Außerordentlichkeit sollten auf ihre ursprünglichen Bedeutungen zurückgeführt werden. (Das Verb περττεύω drückt nicht nur Reichhaltigkeit, sondern auch Überfluss an etwas aus.) Wer herausragend, außerordentlich ist, verfügt über etwas, woran es den anderen fehlt: Er ist im Besitz nichtalltäglicher Eigenschaften. Und da das »Herausragen« gleichermaßen körperliches Überragen wie auch geistige Überlegenheit bedeuten kann, ist die Frage, ob wir es als ein geistiges oder als physisches Charakteristikum betrachten, zweitrangig. (Die geistigen Folgen einer körperlichen Veränderung zeigen, dass die Außerordentlichkeit nicht nur auf das eine oder andere beschränkt werden kann.) Wer herausragend ist, sei er es als Dichter, Philosoph, Politiker oder Künstler, ist es nicht nur geistig, sondern dieses sein geistiges Herausragen ist selbst die Folge einer sich in der Tiefe vollziehenden und selbstverständlich nicht nur rein körperlichen bzw. geistigen Veränderung: Wir müssen darin die eigentümliche Beziehung des Menschen zum Leben, besser gesagt, zu seinem eigenen persönlichen Schicksal bemerken. Entscheidend ist dabei das entschiedene Sich-dem-Schicksal-Entgegenstellen, das Aufsichnehmen des Schicksals und seine gnadenlose Verwirklichung. Dies folgt aus der Einsicht, dass das Leben, dessen geistige und körperliche Merkmale zweitrangig und schwer voneinander abgrenzbar sind (wie viele sterben an ihrer Außerordentlichkeit, und wie viele große Geister gehen an irgendeinem körperlichen Gebrechen zugrunde, wie wir zu sagen pflegen, obwohl wir genau spüren, dass es sich jeweils nicht nur um den Körper bzw. nur um den Geist handeln kann), unvergleichlich ist (περισσός bedeutet in der griechischen Arithmetik so viel wie ungerade). Wer herausragend ist, hat seine Außerordentlichkeit der Einmaligkeit des Lebens (seiner Unteilbarkeit und der Unmöglichkeit, es zu vervielfachen) zu verdanken; daher scheint es verständlich, dass dieses eigentümliche Geschenk nicht Frohsinn, auch nicht vertrauensvolle Hoffnung, sondern Melancholie hervorruft. Dadurch wird der scheinbare Widerspruch des aristotelischen Satzes gewissermaßen gedämpft. Doch wie steht es mit der Melancholie, der schwarzen Galle? Selbst eine nur oberflächliche Kenntnis der griechischen Kultur reicht aus, um sagen zu können, dass die Trennung der vergangenen 2 000 Jahre von Körper und Seele, von Geist und Materie in zwei Bereiche, ihr weder als Erfahrung noch als Einsicht bekannt war, dass sie somit die körperlichen Eigentümlichkeiten der schwarzen Galle nicht ausschließlich als körperliches Merkmal betrachtete, sondern sie in die geistige Welt und damit in die Beurteilung des Ganzen des Kosmos hinüberhob; sie hatte solcherart jene Zweiheit, die wir als den Gegensatz von geistigem Herausragen und der für den Körper bezeichnenden schwarzen Galle kennengelernt haben, nicht nur nicht vollendet, sondern von vornherein auch niemals erfahren. Die begriffliche Entfaltung der Melancholie, der schwarzen Galle, verschafft uns tieferen Einblick in diese Anschauung.


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