Melancholie. László F. Földenyi

Melancholie - László F. Földenyi


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Taten ebenfalls unvorstellbar wären. Die Ordnung des Kosmos wird so vom Melancholiker in einer beständigen Verletzung dieser Ordnung erahnt. Wer daher ein Melancholiker ist, ist keinesfalls eine durchschnittliche Persönlichkeit – aber auch seine Überdurchschnittlichkeit bedeutet nicht, dass er krank sei, ganz im Gegenteil: Wenn man so will, ist er zu gesünderem Leben fähig als der Durchschnitt. Die Kriterien dieser »herausragenden Gesundheit« (vom Standpunkt der Nüchternheit her gesehen: Krankheit) sind jedoch andere als die der durchschnittlichen Gesundheit.

      Außerordentliche Persönlichkeiten sind die Melancholiker: Doch was ist es, worin sich diese Außerordentlichkeit zeigt? Darauf gibt Aristoteles keine Antwort, benennt jedoch einige sich allgemeiner Bekanntheit erfreuende Persönlichkeiten, die er für Melancholiker hält: Aias, Sohn des Telamon, Bellerophontes, Herakles, Empedokles, Platon, Sokrates und Lysander. Die drei Erstgenannten sind Helden der griechischen Mythologie, die nächsten drei Philosophen, und der Letztgenannte ist Politiker (Staatsmann). Worin sie gleich auf den ersten Blick übereinstimmen, das ist die übermenschliche Leistung, die sie vollbracht haben. Die Aufgaben von Herakles sind bekannt; ebenso die Gedankenwelten von Platon, Sokrates und Empedokles. Lysander hat den höchsten Gipfel der Macht erklommen, der zu seiner Zeit erreichbar war, Bellerophontes von Korinth hat über die Chimaira, die Solymer und die Amazonen den Sieg errungen. Aias aber, der Sohn des Telamon, König von Salamis, war einer der stärksten, ausgezeichnetsten Krieger des gegen Troja kämpfenden Heeres. Gemein haben sie die Größe, den Heldenmut, die Außerordentlichkeit – aber nicht nur das: Ihre Überdurchschnittlichkeit zeigt sich auch an den Schattenseiten ihrer Lebensläufe.

      Aias erhielt noch in seiner Kindheit von Herakles die Gabe der Unverwundbarkeit. Nachdem man ihn aber, seinem Gefühl nach unrechtmäßig, der Waffen des gefallenen Achilles beraubt hatte und sie dem verschlagenen Odysseus zukommen ließ, wurde sein Geist verwirrt. Er schwor sich gegen die Griechen Rache, aber Athene trübte sein Augenlicht, und statt unter seinen Kameraden richtete er unter den in der Nähe weidenden Schafen ein Blutbad an. Als er wieder zu sich kam, war er außerstande, diese Schande zu ertragen, und beging Selbstmord. Aias, »den gefangen hält ein unnahbares Schicksal«,9 so Sophokles, trug die menschliche Natur in sich, doch war diese nicht das Maß seiner Sehnsüchte. Als stärkster Krieger übertraf er alle; wies Athenes Hilfe, darauf vertrauend, dass ihm das Kampfesglück aus eigener Kraft heraus hold sei, zurück. Diese Kraft, das herausragende Heldentum, isolierte ihn aber auch von den anderen; daher der Spott, den sie ihm angedeihen ließen, das Unverständnis, das ihn umgab. Es war nicht sein Verstand, sondern seine körperliche Kraft, die ihn berühmt gemacht hatte, und dennoch, der Überschwang an körperlicher Kraft hat ausgereicht, dass »einsam weidend in seinem Sinn«,10 wie er war, irgendetwas ihn leicht erschüttern und zu Fall bringen konnte. Denn »er liegt da, krankend an düsteren Stürmen«,11 sagen die Kameraden über den nun im Wahnsinn wütenden Aias, der, wieder zu sich kommend, erkennt, dass seine Welt unrettbar erschüttert worden ist: Die körperliche Würde vereint sich hier mit Nichtigkeit. (Ist es denn nicht als Schwäche anzusehen, wegen irgendwelcher Waffen verrückt zu werden?) Doch ist die geistige Schwäche auch ein Zeichen der Maßlosigkeit: Wer so sehr Sehnsucht empfinden kann und auch so sehr in Aufruhr zu geraten vermag, dass ihn der Wahnsinn packt, der muss auch die gewohnte Ordnung der Welt für nichtig halten. Seine Ehre hat er nicht nur gegenüber den Menschen verloren, sondern auch den Göttern gegenüber, die den Wahnsinn auf ihn herabließen. Aus Aias Sicht kann man seinen Zustand aber auch so verstehen, dass die Menschen für ihn im selben Maße aufgehört haben zu existieren, wie sie für ihn an Wichtigkeit verloren haben, und so auch die Götter. Legen wir ihm die Worte des Sophokles in den Mund: »Bin ich doch nicht mehr wert, / Weder zu der Götter Geschlecht noch dem / Der Tageswesen nach Hilfe zu schauen, der Menschen«.12 Er hat seine Beziehungen zur irdischen wie zur göttlichen Welt verloren, er befindet sich außerhalb des Alls. Εκστατικὸς ἐγένετο, sagt Aristoteles; einen ekstatischen Zustand erlangend, gelangt er aus sich selbst heraus. Die innere Störung, die mit einer Auflösung der Weltordnung einhergeht, treibt ihn zum Selbstmord.


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