Melancholie. László F. Földenyi

Melancholie - László F. Földenyi


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echten Weissagenden wird nicht der, der kundtut, was morgen ist, sondern der sagt, was jetzt ist; derjenige, der uns unser ureigenes Innerstes eröffnet, und jener, der uns unser sich irgendwann verwirklichendes Ich entgegenhält. Γνῶθι σεαυτόν steht auf der Fassade des Orakels von Delphi: Die Zukunft ist in uns, nicht außerhalb von uns; wir selbst machen das Kommende zur Zukunft, die Zeit zur Zeit, das heißt mit anderen Worten, wir sind nicht der Zeit, sondern einzig und allein uns selbst ausgeliefert. Über den echten Wahrsager wird der Bruder Leo folgende Lehre vom heiligen Franziskus empfangen: »[E]r könnte […] nicht nur künftige Dinge, sondern auch die Geheimnisse der Gewissen und Seelen kundtun«.38 Und aus diesem Grunde stellt Empedokles bei der Aufzählung der vier bedeutendsten menschlichen Berufe den des Wahrsagers an die erste Stelle, ihm folgen die Dichter von Hymnen, die Ärzte und die Herrscher – jene also, die auf ihre Art die Ausformung ihres gegenwärtigen Lebens und das Aufdecken seiner Gesetzmäßigkeiten als die Aufgabe ihres Lebens ansehen. Deshalb verwendet Platon das Verb wahrsagen (μαντεύω) im Zusammenhang mit der Dichtung und der Philosophie im Passiv: Mit der infinitiven Verbalform (μαντεύεσθαι) verweist er auf jene innere Begeisterung, jene innere Verklärung, dank welcher der Philosoph zur Aufdeckung der in der Tiefe verborgenen Wahrheiten, nicht der kommenden Ereignisse gelangt. Der Wahrsager ist in dem, worüber er spricht, mitenthalten, erleidet dasselbe und steht ihm nicht neutral, wie von außerhalb gegenüber,11 und deshalb ist er, besser als irgendein anderer, geeignet, ins rätselhafte Dasein, das für den alltäglichen Menschen eine jede Rätselhaftigkeit entbehrende Gegebenheit12 ist, zu schauen. Der Wahrsager (μάντις) ist nicht nur etymologisch, sondern auch schicksalsmäßig ein Verwandter des Wahnsinnigen (μανικός), der wiederum ein Zwilling des Melancholikers ist – diese engen Beziehungen zeigen, dass alle drei Teile eines Zusammenhangs sind, der in unserer Kultur schon in Vergessenheit geraten ist: Heute sehen wir den Wahrsager als Scharlatan, den Wahnsinnigen als geistesgestörten Kranken, den Melancholiker einfach als Trübsinnigen an.

      Der Melancholiker steht im Grenzbereich von Sein und Nichtsein – solcherart haben wir bisher den Wahnsinnigen und den Wahrsager charakterisiert, und so können wir auch die melancholischen Heroen bestimmen. Der Fall des Bellerophontes zeigt aber, dass diese Grenzsituation den Melancholiker mit Wissen, Einsicht und Weisheit ausrüstet. Vergleichen wir dies mit dem, was wir über den Wahrsager und über den von den Göttern abstammenden Wahnsinn gesagt haben, dann dürfen wir dieses Wissen als ein tieferes betrachten und darin auch den Ursprung der Philosophie sehen. In einem in seinen Jugendjahren verfassten und uns fragmentarisch erhalten gebliebenen Dialog über die Philosophie verfolgt Aristoteles die Liebe zur Weisheit historisch bis zur urhellenischen Theologie, zu den orphischen Lehren und bis zu den persischen Magiern zurück und hält den Vorgang der Verinnerlichung der Philosophie für verwandt mit dem des Eingeweihtwerdens in die Mysterien (denken wir nur an Herakles, der infolge der Einweihung wahnsinnig, melancholisch – und tief blickend wurde), und ähnlich wie Platon bezeichnet er die in die Mysterien Eingeweihten als Philosophen. Wir haben gesehen, dass Platon der Verklärung der Wahrsager durch den Gebrauch des Verbes »wahrsagen« in der Passivform Ausdruck verleiht, und auch der junge Aristoteles betrachtet die Passivität als den für die Einzuweihenden bezeichnenden Zustand (das heißt derjenigen, die der Weisheit zugänglich sind und zur philosophischen Sicht vorbereitet werden sollen). »Jene, die eingeweiht werden, sollen die Dinge nicht aufgrund ihres Sinnes zu erfassen suchen (μαϑεῖν), sondern sich eine Art inneren Zustand zu eigen machen (μαϑεῖν)«.39 Das Pathos bedeutet gleichsam Leidenschaft, Schicksal, Leiden und Erleben – das heißt, im Gegensatz zu der Mathesis, zum Erkennen, meint es keine objektive, rationale Erfassung der Dinge (wobei der Ausdruck »rational« kaum dazu angetan ist, diesen Hergang zu charakterisieren), sondern die innerliche Vereinigung mit denselben, ihr Erleiden im weiteren Sinn des Wortes. Das Pathos, bzw. seine Ausübung, führt zu jener Erleuchtung, die bei Platon der Schlüssel zum Erblicken der Ideen, bei Aristoteles der zum tieferen Verständnis des Seins geworden ist (ἔλλαμψις). Der echte Philosoph ist daher auch ein Wahrsager, da ihn aber dadurch, dass er auch Wahrsager ist, gewisse Stränge an den Wahnsinn binden, ist er gleichzeitig ein Melancholiker. Auch er steht im Grenzbereich zwischen Sein und Nichtsein und ist, wie der Wahrsager Heraklit, gezwungen, immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren: zur Negativität nämlich; die aber nicht das Gegenteil eines als positiv empfundenen Seinszustands darstellt, sondern das Sein selbst, die vollkommene, einzige Wirklichkeit ist. Ich weiß, dass ich nichts weiß – dieser Ausdruck des melancholischen Sokrates (denn auch ihn hielt Aristoteles für einen Melancholiker) ist nicht etwa eine Wortspielerei, sondern vielmehr ein Ausdruck der Ironie, der auf Bestürzung und Betroffenheit folgt. Und als er auf die Frage, ob es sich lohne, in den Ehestand zu treten, den Aufzeichnungen des Diogenes Laertios zufolge,40 antwortete: Egal was du auch tust, du wirst es bereuen, legte er wiederum von der tieferen Berufung des Philosophen Zeugnis ab: den Lernbegierigen an die Grenzen von Sein und Nichtsein zu verbannen, nicht, um ihn der Verzweiflung preiszugeben, sondern damit er mit sich selbst ins Reine komme. (Die teuflische Schlussfolgerung, dass wir gerade dann der Verzweiflung anheimfallen, wenn wir mit uns selbst ins Reine gekommen sind, ist schon das Werk der barocken Seinsauffassung bzw. des treuesten Sokrates-Schülers Kierkegaards.) »Was verdiene ich zu erleiden oder zu erlegen, weshalb auch immer ich in meinem Leben nie Ruhe gehalten, sondern unbekümmert um das, was den meisten wichtig ist, um das Reichwerden und den Hausstand, um Kriegswesen und Volksrednerei und sonst um Ämter, um Verschwörungen und Parteien, die sich in der Stadt hervorgetan, weil ich mich in der Tat für zu gut hielt, um mich durch Teilnahme an solchen Dingen zu erhalten, mich mit nichts eingelassen«.41 (Aufzeichnungen über den anderen melancholischen Philosophen, Empedokles, zeigen ebenfalls, dass er die Freiheit liebte, jede Art der Macht verachtete und das ihm angebotene Amt des Königs zurückgewiesen hat.)

      Der melancholische Sokrates, der besessene Erforscher der Wahrheit – sein Wahnsinn, seine Liebe zur Weisheit (Philosophie) und die daraus folgende schwere Melancholie erlauben es ihm, verborgendste Geheimnisse zu schauen. Der Vorwurf, den die Athener gegen ihn vorgebracht haben und der bei Sokrates folgendermaßen Niederschlag fand: »mich […] beschuldigt haben ohne Grund, als gebe es einen Sokrates, einen weisen Mann, der den Dingen am Himmel nachgrübele und auch das Unterirdische alles erforscht habe«,42 war im tieferen Sinne richtig: Hat Sokrates selbst nicht mehrmals betont, dass sein Geist (δαίμων) ihm immer das Kommende verkünde? Doch der Dämon, der sich erst viel später als böser Geist entpuppte, ist nicht nur für das Zukünftige verantwortlich, sondern auch Ursprung der Besessenheit – und Ursache seiner Melancholie ist vielleicht gerade diese nie endgültig geklärte Beziehung zur außerirdischen Welt. Dies führte bei Bellerophontes zum Wahnsinn, dieses unnahbare Schicksal verstörte Aias, und die Heimatlosigkeit des zwischen dem göttlichen und dem irdischen Sein Stehenden führte Herakles zuerst in den Wahnsinn, später dann auf den von ihm selbst errichteten Scheiterhaufen. Und dasselbe beunruhigte den sizilianischen Empedokles, dessen Name ebenfalls unter den von Aristoteles aufgezählten melancholischen Philosophen zu finden ist: »Denn sie [die Gottheit, L. F.] ist auch nicht mit menschenähnlichem Haupte an den Gliedern versehen, nicht schwingen sich fürwahr vom Rücken zwei Zweige, nicht Füße, nicht schnelle Knie, nicht behaarte Schamglieder, sondern ein Geist, ein heiliger und übermenschlicher regt sich da allein«.43 Dies war es, was den Geist des Bellerophontes vernebelte, und auf seine Art ist auch Empedokles als Besessener zu betrachten, der zwar nicht an den Göttern zweifelte, ihr Sein aber so weit auflöste, dass er gezwungen war, den Pfad in Richtung Mystik einzuschlagen. Er selbst rief sich zum Gotte aus, der als Sühne seiner im früheren Leben begangenen Sünden lange Zeit außerhalb der Welt der Götter, auf dem mühseligen Pfad des Lebens wandelnd, verweilen musste: »[M]ehr bin [ich] als die sterblichen, vielfachem Verderben geweihten Menschen«:44 unsterblicher Gott (Θεός ἄμβροτος), der sich über alle Rätsel des irdischen Lebens im Klaren und diese aufgrund seines Wissens von außen zu betrachten in der Lage ist: »Denn engbezirkt sind die Sinnes Werkzeuge, die über die Glieder gebreitet sind; auch dringt viel Armseliges auf sie ein, das stumpf macht die Gedanken. Und schauten sie in ihrem Leben vom (All)leben nur kleinen Teil, so


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