Melancholie. László F. Földenyi

Melancholie - László F. Földenyi


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Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Lichte leuchten; ich schaute die Unter- und Obergötter von Angesicht zu Angesicht und betete sie in der Nähe an«.54 Apuleius erwähnt ganz bewusst die um Mitternacht glitzernd strahlende Sonne: Er dachte an die ägyptischen Mysterien. Den dortigen Vorstellungen nach folgen die seligen Toten dem Sonnengott, der ebenfalls das Reich der Toten (Eingeweihten) betritt. Auch den Griechen war diese Auffassung nicht fremd; Pindar zum Beispiel meint, dass die Sonne nachts das Reich der Toten erleuchte.25 Im Mithras-Mysterium wird Helios, einem erhalten gebliebenen Text der Mithras-Liturgie zufolge, als Gott der Unterwelt angerufen: »Helios […] wohnst du wirklich im Grunde der Erde, im Totengefilde«.55 Gleichzeitig wusste Apuleius als eingeweihter Fachmann der Magie, dass die Babylonier den ständig an seiner Stelle stehenden Planeten Saturn als die nächtliche Entsprechung der Sonne verehrten. Obwohl sein Licht schwach ist, nannten sie ihn strahlend und leuchtend, und dies wurde auch von anderen Kulturen übernommen: Den Aufzeichnungen Plutarchs zufolge hielten die Ägypter ihn für den nächtlichen Wächter (νυκτοὔπος), die Griechen nannten ihn den Sichtbaren (δ Φαίνων), riefen ihn Sonnenstern, die Inder aber verehrten in ihm den Sohn der Sonne. Der römische Astrologe Manilius setzte die Sonne und den Saturnus an die beiden Enden der Weltachse, und seiner Meinung nach erscheint vom Saturn aus gesehen die Welt im entgegengesetzten Blickwinkel. Dies erlangte aber erst dadurch wahre Bedeutung, dass zur Zeit des Hellenismus, im Rom des 1. und 2. Jahrhunderts, die Astrologen und Philosophen eine tiefe Entsprechung zwischen der Melancholie und dem Planeten Saturn entdeckt hatten (all jene, die im Zeichen des Saturn geboren werden, sind Melancholiker) – als also Lucius im Verlauf seiner Einweihung in die Mysterien am Erlebnis des Anblicks der mitternächtlichen Sonne teilhatte, da wandte sich Apuleius, ohne überflüssige Worte zu verschwenden, an die Verstehenden: Er verwies auf die tiefe, nie ganz zu fassende Beziehung zwischen den Mysterien und der saturnischen Melancholie bzw. machte durch die Erwähnung des Saturn das, was für die Griechen als Möglichkeit in den Mysterien schwelte, offensichtlich.26 Und als die Römer im letzten Monat des Jahres, im heiligen Monat des Saturn, die Todesgötter feierten, machten sie den Zusammenhang Saturnus-Melancholie-Mysterium noch eindeutiger: Dem römischen Glauben nach eröffnet sich zu dieser Zeit das innere Wesen der Welt, am 17. Dezember aber, am Tage der Saturnalien, erscheinen die Seelen der Toten; zusammen mit allem, was in der Erde ruht, kommen sie hervor, und mit dieser Auferstehung bricht auf der Erde eine dämonische Kraft los, die keinerlei Gesetze kennt.27 Saturnus (den Plutarch zu den chthonischen Göttern zählte) hat seine griechische Entsprechung in Kronos, und die Griechen feierten seinen Tag, an dem ebenfalls alle Dämme brachen, ähnlich: Für die Zeit des Hellenismus entwickelte sich die Vorstellung, dass Kronos nicht Sohn des Helios, sondern des Uranos und somit, väterlicherseits, auch Halbbruder der Lyssa, der Göttin des Wahnsinns, sei. Und was könnte – um den Zusammenhang noch weiter zu fassen – für die griechische Glaubenswelt und für das darin enthaltene Seinsverständnis bezeichnender sein, als jene Tatsache, dass der orphischen Theologie nach der melancholische Kronos über Seherfähigkeit verfügte: Promantis, das heißt, er sagt die Geheimnisse des Seins voraus. (Zur Zeit des Hellenismus verbreitete sich die Vorstellung, dass, wer wahrsagen kann und die esoterischen Riten der Mysterien kennt, im Zeichen des melancholischen Planeten geboren ist.) Es erscheint das logisch kaum nachzuvollziehende und dennoch zusammenhängende und unzerreißbare Netz, das die Melancholie umgibt und dessen Knoten das Wahrsagen, der Wahnsinn, die Philosophie, das Eingeweihtsein in die Mysterien, das Relativwerden von Leben und Tod und die im Sinne der Antike verstandene Auferstehung sind.


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