Melancholie. László F. Földenyi

Melancholie - László F. Földenyi


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deuteten Sehweise und Wissen der Eingeweihten in Richtung auf die Melancholie.17 Die Mysterien sind deshalb als die gefährlichsten Experimente der griechischen Kultur anzusehen: Tausende wollten sie an jenem Wissen teilhaben lassen, das den Menschen zum Melancholiker (das heißt zum Wahrsager, Wahnsinnigen, Philosophen) machte. Doch gestattet das grundlegendste Gesetz des menschlichen Zusammenlebens nicht, dass ein jeder allwissend, alles sehend und letztlich zum isolierten Einsamen werde. Es ist daher, wenn die Melancholie einen Einzelnen vernebeln soll, notwendig, dass die anderen keine Melancholiker sind; damit er in der Wahrheit lebe, ist es notwendig, dass ihn eine Welt der Nichtwahrheit umgebe;18 und um tiefschürfend sein zu können, ist es notwendig, dass es irgendwas in der Tiefe gebe, es muss also Oberfläche und Tiefe geben. Die Wahrheit und das Wissen bilden nicht den Besitz eines jeden, sie sind so besehen nicht demokratisch – im Gegensatz zu den Mysterien, die sowohl im Hinblick auf ihre politische wie ihre geistige Intention »demokratische Institutionen«19 sind. Gerade deshalb sind sie die geheimnisvollsten Gebilde der griechischen Kultur: als ob man versucht habe, Wasser und Feuer zu vermengen. Doch heben sie sich in den Mysterien nicht auf: Nur ein ganz kleiner Teil der Eingeweihten wurde zum Melancholiker (und fügen wir hinzu, dass der, der von sich aus melancholisch war, sozusagen notwendigerweise zum Eingeweihten wurde), das heißt, dass sich die Mysterien als solche nicht auf die Melancholie ausrichteten, doch für die Eingeweihten die Möglichkeit enthielten, zu Melancholikern zu werden. Aber nicht nur dies, denn sie deuten auch jenen Beziehungszusammenhang an, in dem sich die Melancholiker hoffnungslos verirren. Wir haben es im Falle der Heroen gesehen: Ihre Melancholie hatte keine greifbare Ursache, hätte sie eine, wäre sie ja sogar heilbar. Doch gibt es Situationen, die eine im verborgenen schwelende Melancholie zum Ausdruck bringen können: Aias werden die Waffen des Achilles genommen, Bellerophontes erhebt sich gen Himmel, Herakles besucht die Unterwelt etc. Die Mysterien sind in diesem Sinne ebenfalls Grenzsituationen. Die Einweihung – zumindest ist Dion Chrysostomos dieser Ansicht – hat die gleiche Wirkung wie die Betrachtung des Universums,20 oder anders gesagt, es wird den Eingeweihten der Einblick in möglichst tief greifendes Wissen gewährt. Platon zufolge waren wir vor Beginn des irdischen Daseins Teilhaber an einer Glückseligkeit bringenden Einweihung, das heißt, dass die irdische Einweihung schon der mittlere Aufzug eines riesigen Schauspiels ist: die Heraufbeschwörung des außerirdischen, pränatalen und postmortalen Seins. Im Verlauf dieser Heraufbeschwörung erinnert sich die Seele an alles, was sie einst erblickte, als sie noch mit der göttlichen Seele gemeinsam einherschritt, und »daher« – denken wir nur an die eigentliche Bedeutung des Wortes Philosophie – »wird mit Recht nur des Philosophen Seele befiedert: denn sie ist immer durch Erinnerung soviel als möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindend eben deshalb göttlich ist«.51 Echtes Wissen kann nur derjenige sein eigen nennen, der seine Erinnerungen richtig gebraucht, nur er kann ein ganzer Mensch sein, und nur er kann an einer vollständigen Einweihung teilhaben (τελέομς ἀεὶ τελετὰς τελούμενος). Sie macht den Menschen zum Wissenden; das höchste Wissen aber kennt die Grenzen des irdischen Seins nicht: Es zieht die Welt des Außerirdischen, das der Geburt vorangehende und das dem Tode folgende Sein in seinen Kreis hinein. Und so erinnert das Eingeweihtwerden in gewisser Weise an das Wahrsagen und Auferstehen; dieser Vorgang versetzt den Eingeweihten in ein Außerhalb der Zeit und vereint Geburt und Tod zu einem einzigen Augenblick, in dem er gleichsam der Lehre des Thales gehorcht, gemäß der sich Tod und Leben nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden und sich in der Gegenüberstellung wechselseitig relativieren. Deshalb hält Sophokles für die Glücklichsten jene, die in die Mysterien eingeweiht sind: Sie erkennen nämlich nicht nur den Tod im Leben, sondern erblicken das Leben im Tode. Das Wort »Einweihung« (ή τελευτή) selbst verweist auf dieses Heraustreten aus dem gewohnten Rahmen: Es ist dem Verb »beenden«, »sterben« (τελευτάω), verwandt,21 und seinen Stamm bildet das Wort τὸ τέλος, das gleichermaßen Ziel, Ende, Grenze, Entscheidung und Erfüllung bedeutet. Derjenige, der eingeweiht wird, stirbt in einem gewissen Sinne oder gelangt zumindest in eine intime Beziehung zum Tode. Der im 4. Jahrhundert lebende und den Mysterien feindlich gesonnene Firmicus Maternus nennt den in die Mysterien einzuweihenden Menschen Homo moriturus. Da aber der Tod ihn in die »wahrhaft seiende« Welt der Dinge hinwegführt, wird er auch neu geboren: Er kehrt seinem bisherigen Leben den Rücken. Den in die eleusischen Mysterien Eingeweihten wird das außerirdische, glückliche Leben garantiert, doch Gnade kann man nur unter der Voraussetzung einer symbolischen und freiwilligen Aufsichnahme des Todes erlangen.22 Der Tod selbst ist das wichtigste Mysterium; in seinem Werk über die Seele schreibt Themistios: »Wenn der Moment des Todes eintritt, erfährt die Seele etwas Derartiges wie jene, die in die großen Mysterien eingeweiht wurden. Deshalb besteht zwischen den Verben ›sterben‹ und ›eingeweiht werden‹ und den durch sie bezeichneten Handlungen eine Ähnlichkeit«.52 Sokrates meint, dass das rechte Philosophieren aus einer Vorbereitung auf den Tod bestehe, und Pindar schreibt über die, die in die Mysterien von Eleusis eingeweiht werden sollen: »Glückselig ist, wer […] den Weg unter die Erde betritt: er kennt das Ende des Lebens und dessen von Zeus gegebenen Anfang«.53


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