Wyatt Earp Paket 3 – Western. William Mark D.
Erstens dauert es viel zu lange. Und zweitens müssen wir nun damit rechnen, daß in der sicherlich schluchtengen Passage hinten Wachtposten aufgestellt sein werden, denen wir dann gar nicht entgehen können.«
Holliday nickte. »Und – was haben Sie vor?«
»Ich muß hier hinunter.«
»Hier? Wie wollen Sie das denn anstellen? Das fällt doch hier mehr als zehn Yard steil ab?«
»Vorn an der Felsnase ist es nicht so steil, sondern im Gegenteil zackig und schräg abfallend. Man kann darübersteigen, wenn man sich etwas geschickt anstellt.«
Holliday gab zu bedenken, daß das doch wohl eine zu gefährliche Passage werden könnte, denn bei dieser Dunkelheit mußte man doch damit rechnen, in diesem unbekannten Gelände irgendwo in einen der Schründe, die hier überall in dem Gestein klafften, abzustürzen.
»Ich habe keine andere Wahl«, entgegnete der Marshal. »Wir müssen hinunter. Jedenfalls einer von uns.«
»Well«, entgegnete Holliday, »dann komme ich mit.«
»Nein, Sie müssen bei den Pferden bleiben. Wir können die Tiere hier nicht unbeaufsichtigt stehen lassen.«
»Wir können sie vielleicht irgendwo in einer Gesteinsnische unterbringen.«
»Nein, es ist mir lieber, wenn die Pferde bereitstehen für den Fall, daß ich fliehen muß.«
»Vorausgesetzt, daß die Flucht Ihnen dann gelingt.«
»Ja, das ist richtig.«
Wyatt hob grüßend die Hand und ging in das Dunkel des Felsens davon.
Gleich darauf gab der schwarze Stein der Felsnase seine Gestalt wieder frei, sie tauchte vor dem immer noch rötlich schimmernden Spiegel des Sees auf.
Holliday lauschte dem immer leiser werdenden Geräusch des Freundes nach.
Wyatt war an der Felsnase vorbeigegangen und mußte jetzt schon seine Kletterpartie beginnen.
Es ging anfangs noch ganz gut, aber dann wurde es doch erheblich steiler, als er angenommen hatte, und plötzlich befand er sich vor einem dunklen Riß im Gestein. Genau das, was Doc Holliday befürchtet hatte, war eingetreten: er sah sich einem unüberwindlichen Hindernis gegenüber. Umkehren?
Auf keinen Fall. Der Weg um den See war zu zeitraubend und vor allem zu gefährlich.
Aber wie sollte er hier hinüberkommen?
Langsam ließ er sich auf allen vieren an der Kante des Risses entlang dem See zu hinunter.
Immer steiler und steiler wurde die Kriechpassage.
Schon hatte er sich das linke Handgelenk an dem rissigen Gestein aufgerissen.
Plötzlich schrak er jäh zusammen.
Sein linker Fuß war etwas abgerutscht, und als er sich umsah – er hatte sich rückwärts bewegt – sah er unter sich die silberrot schimmernde Oberfläche des Sees.
Das war also eine Sackgasse.
Er mußte zurück.
Als er den Punkt erreicht hatte, auf dem er vorhin angekommen war, kroch er an der Spalte entlang höher hinauf und fand tatsächlich nach etwa sechzig Yards einen Grat, der über die Kluft hinüberführte.
Aber er war etwa nur eine Elle breit.
Wyatt lag auf dem Leib und schob sich robbend vorwärts.
So vorsichtig er sich auch bewegt hatte – plötzlich bröckelte etwas von dem Gestein unter seinem linken Stiefel ab und fiel in die Schlucht, wo es an den Felswänden aufschlug und dann unten auf dem Grund ein klickendes Geräusch verursachte, das sich in leisem aber doch hörbarem Echo über den See hin verbreitete.
Der Marshal war liegengeblieben und lauschte mit angehaltenem Atem in die Nacht.
Das Geräusch war verebbt. Lautlose Stille herrschte wieder über dem See.
Der Marshal setzte seinen mehr als unbequemen Weg fort, kroch dem Ende des Grates zu und erreichte die gegenüberliegende Seite der Schlucht.
Da er sich viel höher bewegte als vorher, hatte er in Kauf nehmen müssen, daß er jetzt das Waldstück nicht mehr sehen konnte.
Jeden Augenblick mußte er damit rechnen, daß sein Weg erneut durch einen dieser Schründe beendet würde.
Hoffentlich war alles dies nicht umsonst.
Wyatt hatte früher schon mehrmals von diesem See gehört, aber niemals bisher war ihm berichtet worden, wie geheimnisvoll das Gewässer in Wirklichkeit war.
Der tiefe Eindruck, den der rotschimmernde Glanz des Seespiegels im Widerschein der untergehenden Sonne in dem Missourier zurückgelassen hatte, wurde jetzt durch die geheimnisvolle Bergnacht und das bevorstehende Abenteuer nur noch verstärkt.
Wyatt bewegte sich nur Yard um Yard vorwärts. Jetzt allerdings hatte er sich auf die Knie erheben können, tastete sich aber mit den Händen vor und hoffte nach jedem weiteren Schritt, daß das Waldstück vor ihm auftauchen würde.
Aber er mußte noch eine Dreiviertelstunde lang diesen beschwerlichen Weg hinter sich bringen, bis er plötzlich vor sich ein schwarzgraues Dunkel sah, das er zunächst für eine neue, sehr breite Kluft hielt.
Er hockte an dem hier nicht allzu steil abfallenden Gestein und blickte auf das Dunkel hinunter.
Plötzlich zog er die Brauen zusammen und sah schärfer hin.
War das wirklich eine Schlucht? Waren das nicht Baumwipfel, die ihm da entgegenragten? Wyatt blickte noch schärfer hin, und jetzt war er davon überzeugt, daß er sich dicht über dem Waldstück befand.
Aber wie wollte er hinunterkommen? Die Felsen fielen doch steiler ab, als es den Anschein gehabt hatte.
Wenn er an einen der Baumwipfel hätte kommen können, dann wäre alles anders gewesen.
Wyatt sah einen der Wipfel rechts unter sich aus dem Dunkel ragen, der vielleicht von einem Gesteinsvorsprung aus erreicht werden konnte, wenn man einen Sprung riskierte.
Tief an den Boden gedrückt, schob sich der Marshal weiter vor, bis er den Baumwipfel genau erkennen konnte.
Es waren mehrere Yards.
Und ein Sprung hinüber mehr als ein Wagnis!
Wyatt lag tief an den Boden gepreßt und starrte auf den Baumwipfel, den er nicht einmal sehr scharf erkennen konnte.
Ich habe keine andere Chance! hämmerte es in seinem Hirn. Ich muß da hinunter. Wenn ich hier links am Fels hinunterklettern will, laufe ich wenigstens ebenso große Gefahr, abzustürzen und entdeckt zu werden. Das Geräusch, das ich beim Abstieg verursache, ist jedenfalls unvermeidlich.
Wyatt richtete sich in kniende Stellung auf und zog dann den rechten Stiefel nach vorn.
Jetzt ließ er die Hände los und erhob sich langsam. Knapp eine Elle breit war das vorspringende Felsstück, auf dem der Mann aus Missouri jetzt stand.
Unter ihm gähnender Abgrund.
Und da vorn aus dem Dunkel schienen ihm die Tannenspitzen wie ein Heer von Speeren drohend entgegenzublicken.
Wyatt visierte noch einmal sein Ziel an.
Wie weit war es entfernt?
Die Distanz war unmöglich genau einzuschätzen.
Aber ich werde hinüberkommen! Weil ich ganz einfach hinüberkommen muß.
Wenn ich wenigstens einen Anlauf nehmen könnte. Wyatt ließ sich wieder auf die Knie nieder und blickte sich um.
Nein, es war ausgeschlossen, hier konnte er keinen Anlauf nehmen. Da riskierte er Kopf und Kragen, weil er beim Laufen zu leicht einen Fehltritt machen und abstürzen konnte. Dann erreichte er die Tannen nie.
Ich muß aus dem Stand hinüberspringen.