Freude am Sehen. Hiltrud Enders

Freude am Sehen - Hiltrud Enders


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mein Kopf immer mit dem beschäftigt, was gleich noch geschehen soll, so hindert mich das, verlorenzugehen im Augenblick. Wie wäre es mit einem Mischgewebe. Warum nicht mittendrin verweilen? Das häufigste Hindernis zur kontemplativen Fotografie ist, sich keine Zeit zu nehmen für das, was gerade geschieht. Meinen Alltag einzuteilen in Zeit für Pflicht und Zeit für Sehen ist der falsche Ansatz. Sehen kann immer geschehen, mittendrin. Und sei es die Sonne auf dem Küchenkrepp, während ich das Geschirr spüle.

      Neugierde im Alltag kann positive Veränderungen bewirken. Vielleicht stellst du Freundinnen neue Fragen oder du betrachtest dir fremde Menschen. Oder du stellst Fremden Fragen und betrachtest deine Freunde. Wie genau sieht eigentlich die Zeichnung der Falten auf der Stirn meines Gegenübers aus? Begib dich auf eine Reise der Wissbegierde und des Staunens in deinem Alltag.

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      »I’ve always loved the definition for contemplation: ›a long, loving look.‹ And when you take a long, loving look anywhere, you feel more bonded with whatever you’ve looked at. You feel as if you recognize it, you see it; maybe it sees you back. And you’re participating in a world where it exists. And so feeling that sense of gravity and belonging everywhere is very important to me.«

      Naomi Shihab Nye, Poetin, im Gespräch mit Krista Tippett, März 2018, onbeing.org

      kon•tem•p•la•tiv

      beschaulich, besinnlich, konzentrierte Betrachtung, versunken

       Was bedeutet der Begriff kontemplativ?

      Konzentriertes Betrachten ist eine Übersetzung, die mir liegt: Sich vertiefen und dabei – zumindest ein wenig – das Denken vergessen. Es ist eine sinnliche Erfahrung, die Beschäftigung mit dem, was gerade ist. Mich versenken und auf diesem Weg eine Erkenntnis gewinnen. Diese Erkenntnis ist nicht intellektuell, sondern entsteht aus der Erfahrung des Tuns. In der Kalligrafie ist es die sichere Stiftführung auf dem Papier, wenn du ganz bei der Sache bist. Kontemplative Fotografie ist ein wirkliches Erleben des Sehens – zuerst ohne und dann mit Kamera. Das kann ein Stadtpanorama sein oder die Färbung des Fells einer Katze. Und ein bisschen hat es den Charakter, eins zu werden mit dem, was ich sehe. Es ist eine Hingabe ans Sehen, die Leidenschaft, meine Erfahrung erfahren zu wollen.

      Das ist nichts Neues in der Fotografie? Ansel Adams, der US-Amerikaner, der insbesondere bekannt wurde durch seine Landschaftsfotografien, betrachtete über lange Zeiträume die Natur. Das Künstlerpaar Becher saß mit Thermoskanne und Butterbroten auf Industrietürmen und wartete den Moment ab, um die Serien der Fördertürme, Hochöfen und Ähnliches im richtigen Licht zu fotografieren. Sehen und mit dem Sehen verweilen ist das Handwerkszeug der Fotografie.

      Der Unterschied zu der kontemplativen Fotografie, deren Ansatz ich übe, ist, dass wir alles daran legen, der ersten frischen Wahrnehmung treu zu bleiben. Die Intensität der Betrachtung dient nicht dazu, darüber nachzudenken, das, was ich bemerke, in einer besonders raffinierten Art darzustellen, es in eine Serie einzupassen oder durch die Bildgestaltung zu erhöhen. Genau an diesem Punkt setzt eine Veränderung unserer Sehgewohnheiten an. Es beginnt eine Art Schulung unseres Sehsinns oder der Selbstreflexion des Prozesses vom Moment des Sehens bis zum Entstehen des Fotos.

      »Viele denken, Achtsamkeit sei einfach ein vorsichtiges, behutsames Handeln, aber das stimmt nicht. Es ist ein Verhaltenskodex aus dem Buddhismus, der von westlichen Psychologen aufgegriffen wurde. Er beinhaltet das Einüben einer bestimmten Geisteshaltung. Vor allem geht es darum, dass ich jederzeit meinen Körper und meinen Geist beobachten kann, während ich etwas tue. Ich merke dadurch, wann ich abgelenkt bin, wann bestimmte Emotionen hochkommen oder wann ich eine Pause brauche. Das erzeugt eine Grundruhe, steigert die Konzentrationsfähigkeit.«

      Frank Berzbach in Spiegel Wissen zum Thema Kreativität

       Achtsamkeit und Aufmerksamkeit

      Achtsamkeit ist eng verwandt mit Aufmerksamkeit. Unter dem Begriff Achtsamkeit (englisch: mindfulness) werden einige meditative Techniken zusammengefasst, die zum Ziel haben, das alltägliche Leben in bewusster Haltung zu erfahren: Das Rauschen von Hektik intensiv empfinden, die Verzweiflung im Stau spüren und ihr nicht nachgeben, sondern stattdessen das Interieur des Autos einmal ausgiebig betrachten, erfreuliche Momente auskosten und bei unerfreulichen Gefühlen trotzdem anwesend bleiben. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, die eigene, sehr persönliche Art und Weise der Aufmerksamkeit kennenzulernen. Wie empfinde ich? Wie bin ich präsent? Die Haltung ist offen, neugierig und akzeptierend. Sie verzichtet auf schnelle Bewertungen. Das Ziel ist nicht eine zurückgelehnte Entspannung, sondern eine eher nach vorne gerichtete Bewusstheit – aufmerksam bei dem, was ist. Die kontemplative Fotografie ist ein Wahrnehmungstraining oder eine Achtsamkeitsschulung bezogen auf den Sehsinn. Mittels der Übungen der kontemplativen Fotografie sehen wir die Welt, in der wir leben, mit offenen Augen und können ganz präsent sein. Ohne Konzept oder Konvention, frei von Konfusion. Momente frischer Wahrnehmung erleben, lebendig und klar, und diese Erfahrung teilen – im Foto.

      Mit Achtsamkeit wird manchmal eine etwas romantisierende Note verknüpft: »Seien Sie achtsamer für die kleinen Dinge des Alltags, so werden Sie glücklicher.« Ich möchte dem gerne entgegensetzen, dass ein achtsameres Leben, in dem ich aufmerksam bin für das, was um mich herum geschieht, mich radikaler machen kann, politischer oder hilfsbereiter. Vielleicht je nach Tagesform etwas von allem. Bin ich mit meiner Kamera unterwegs, so kann ich erleben, dass ich mich aus der schnellen Welt des Konsums in den Städten, der Welt, in der die Eile zuhause ist, herausbewege und eine Art Parallelwelt der Langsamen betrete.

      In der Kölner Südstadt drückt mir eine Frau eine Packung Hundefutter in die Hand mit der klaren, knappen Ansage: »Künne se mr helfe, die Tüt op ze maache. Ming Fingenägel sin ze koot doför. De Hunge bruche ndoch uch jet ze esse.«1 Es stellt sich heraus, dass sie auf routinemäßiger Futtertour ist. Immer wenn sie für sich einkauft, füttert sie auch die Hunde der Obdachlosen im Viertel.

      Vor meinem Arbeitsraum lerne ich den alten Mann kennen, der eine Gruppe Krähen füttert und mit ihnen kleine Kunststücke vorführen kann. Sie ärgern und zwicken seine Hunde und begleiten ihn regelmäßig vom Park bis vor seine Haustür. Es kann sein, dass mich bei so einer Begegnung ein Hauch von Einsamkeit meines Gegenübers anweht. Aber ebenso kann Freude entstehen. An einem anderen Tag hätte ich den Krähenkünstler sicher gar nicht bemerkt auf meinem eiligen Weg ins Gebäude.

      Ich erlebe viele solcher Begegnungen, wenn ich fotografiere. Bist du neugierig auf die Welt, entwickelst du Offenheit, dann rechne auch damit, dass sie dir begegnet – so, wie sie ist. Diese Schulung zu klarem Sehen birgt intensive Seherlebnisse und die Chance, dass du tatsächlich im Moment ankommst und ein Teil davon wirst. Dass eine Begegnung stattfindet und du dich berühren lässt von der Frage, wie du zum Beispiel mit Respekt und Freundlichkeit dazu beitragen kannst, dass diese Begegnung gut gestaltet ist.

      Dieses Buch soll mit den Texten und Bildern anregen, den Alltag mit Hilfe der Kamera aufmerksam zu erleben und dies fotografisch umzusetzen. Du kannst das Buch natürlich von Anfang bis Ende lesen oder auch nach Lust und Laune blättern, hängenbleiben und dich inspirieren lassen.

      Um Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen, erlaube ich mir abzuwechseln zwischen der weiblichen und der männlichen Form – manchmal nenne ich beide. Wichtig war mir, den Text gut lesbar zu gestalten.

      »Aus diesem Blickwinkel ist das Grundprinzip der Fotografie, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. In ihrer eigenen gewöhnlichen Natur. Es ist sehr einfach und direkt.«

      Über Kunst, Chögyam Trungpa

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