Freude am Sehen. Hiltrud Enders
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Meine non-verbale, visuelle, sinnliche Sprache
Für mich begann diese Reise des Sehens und Fotografierens 2006 in einem Meditationszentrum in der Kölner Südstadt. Eine kanadische Freundin besuchte den gleichen Kurs in Nordamerika und empfahl mir die Teilnahme. Über den großen Abstand hinweg eine gleiche Erfahrung wie meine Fotofreundin machen zu können, ließ mich meine Vorbehalte gegen Meditationszentren beiseitelegen. So landete ich am ersten Abend auf einem Kissen. Bisher war meine Vorstellung von Meditierenden, dass sie der Welt entfliehen möchten, sich für meinen Geschmack übermäßig zurückziehen. Das passte nicht zusammen mit meiner Vorstellung von Verantwortung und Teilhabe. Ich sollte auf vielen Ebenen neue Sichtweisen finden.
Der Workshop wurde mit einem Vortrag von Michael Wood eröffnet. Denjenigen, die kein Englisch verstanden, wurde jemand zur Übersetzung zur Seite gestellt. Ich meinte das nicht zu benötigen. So begann für mich ein sprachliches Abenteuer. Ich erinnere mich an das Gefühl, wie mein »Ja-aber-Reflex« außer Kraft gesetzt war. Dieses Schlau-sein-Wollen. Ja, aber – das kann ich doch noch anders verstehen, betrachten, auffassen. Es gibt zu jedem Gedanken einen ergänzenden oder die Möglichkeit, ihn umzudrehen. Darin war ich damals stark, schnell und innerlich drängend. Und heute weiß ich, dass dies eine Kraft ist, die mich schon Vieles hat bewegen lassen, die mein Engagement befördert und mich aufstehen lässt für Ideen und Meinungen. Aber die zarte Pflanze Fotografie oder auch Kreativität erhielt durch meine nicht argumentationssicheren Englischkenntnisse einen Schonraum. Seit Tag eins wusste ich genau, dass ich hier richtig war: Das war mein Lehrer, mein Lernfeld, meine Spielwiese, meine Herausforderung. Ich belegte jeden Kurs, den Michael Wood und Julie DuBose in Europa unterrichteten. Wiederholte ich einen Workshop, so lernte ich jedes Mal etwas Neues. Kannte ich die Aufgabe bereits, konnte ich mich mehr entspannen. Ich spürte tiefer hinein in meine Tagesform, die Art, wie ich erreichbar war. Ich genoss den Freiraum, den mir diese Tage gaben: nach Amsterdam fahren und fünf Tage mit anderen gemeinsam spielen. Das ließ mich die Verpflichtungen und die Anspannung des Alltags wegwischen.
Ich bin immer schon jemand gewesen, dessen Herangehensweise oder Betätigungsfelder man als kreativ beschreibt. Im Architekturstudium wurde die Leichtigkeit, der Wunsch zum Schöpferischen sehr beschädigt durch harsche Kritik auf dem Nährboden von »Nur wer überlebt, ist stark und kreativ genug«. Vom ersten Geld als Architektin kaufte ich mir ein neues Fahrrad, vom nächsten Ersparten einen zweijährigen Lehrgang in Fotografie. Dort lernte ich Zuspruch, wirkliches Feedback und vor allem viel Humor von meiner Lehrerin Brigitte Krömmelbein-Mangler: Dingen Raum geben, ausprobieren, nicht den eigenen Anspruch über den Prozess der Arbeit setzen, sich einlassen auf neue Ausdrucksformen ohne Angst vor Kritik. Tage- und nächtelang mit Händen und Füßen in den Wasserbädern des Schwarzweißlabors. Technikaffin und doch unbefangen. Zehn Jahre später, als ich Miksang kontemplative Fotografie begegnete, so nennt Michael Wood den von ihm entwickelten Ansatz, bemerkte ich, dass ich Stück für Stück die Unbefangenheit der Fotografie doch wieder in den intellektualisierten Leistungsanspruch meines Alltags umgewandelt hatte. Machte ich Fotos, so dachte ich vorher darüber nach, anstatt mich zu begeistern. Die Umstellung von analog auf digital fand ich fast unmoralisch, statt einfach zu experimentieren.
Kontemplative Fotografie bewegt sich jenseits von Mühe und Abarbeiten. Sie basiert nicht auf der klassischen Idee von Talent, sondern folgt dem Wissen, dass klares Sehen eine uns allen angeborene Begabung ist. Vergleichbar der kindlichen Wahrnehmung lassen wir Filter und Anstrengung weg. Wir entspannen und setzen den schweren Rucksack der Gestaltungsvorschriften ab, der gefüllt ist mit Vorstellungen davon, was ein gutes Bild ausmacht. Mein Rucksack war prall gefüllt. Ich habe Miksang-Freunde erlebt, deren Rucksäcke deutlich leichter zu sein schienen, und ich erlebe natürlich in meinen Kursen Teilnehmerinnen, die viele Jahre alle technischen und thematischen Finessen durchdrungen haben und auf der Suche sind nach der ursprünglichen Freude an der Fotografie.
Heute unterrichte ich als eine der Akteurinnen des Miksang Institute for Contemplative Photography gemeinsam mit Trainern aus Nordamerika und Japan diesen Ansatz. Obwohl unsere Lebenswelten kulturell sehr unterschiedlich sind, ist die Wahrnehmung unseres Alltags und der Ausdruck dessen mit dem Medium Fotografie sehr verbindend. Eine nonverbale, visuelle, sinnliche Sprache.
Miksang – pures, gereinigtes Auge
Michael Woods Idee, Fotografie zu studieren, war kein lang gehegter Plan eines jungen Mannes, der sich bereits viel mit Fotografie beschäftigt hatte, sondern eine spontane und gleichermaßen klare Entscheidung im Sommer 1969. Am Sheridan College in Toronto absolvierte er bis 1972 eine klassische Ausbildung zum Fotografen und arbeitete mehrere Jahre in diesem Beruf. 1976 betrat er auf Einladung eines Freundes ein Meditationszentrum mit dem Auftrag, dort Fotos zu machen. Bald begann er täglich mehrere Stunden zu meditieren und bemerkte, dass dies sein Sehen veränderte. Er beschreibt, dass er plötzlich etwas sah, was er seitdem »Wahrnehmungsblitze« nennt. Überraschende Wahrnehmungen, aus heiterem Himmel, eindringlich wie Nadelstiche, welche eine hundertprozentige Aufmerksamkeit bewirkten. Ende der 70er-Jahre sah er Fotografien, die Chögyam Trungpa aufgenommen hatte, und war sehr beeindruckt von diesen Bildern. Sie folgten nicht den klassischen Regeln von Komposition, Thema oder Erzählstrang. Ihre Faszination lag in ihrer Ausdruckskraft, und sie motivierten Michael Wood, die Verbindung von Meditation und Fotografie tiefer zu ergründen und sich mit der Lehre über Wahrnehmung und Kunst dieses Meditationslehrers zu beschäftigen.
Michael entwickelte für sich selbst eine Begrenzung, eine Art Leitsatz, der noch heute gilt. Wenn ich nicht in meiner vertrauten Umgebung sehen kann, dann auch nicht außerhalb dieser Welt. Er beschloss für sich, Aspekte wie Ruhe, Stille, Unbewegtheit mit Sehen zu verbinden, und begrenzte sich für sechs Monate auf seinen Garten, den Zaun, die Garagenwand – täglich für eine oder auch mehrere Stunden. Die in der Meditation erlebten überraschenden Wahrnehmungen wurden häufiger und regelmäßiger. Und die vorgefertigten Ideen von dem, was es zu sehen gab, immer blasser. Für die nächsten sechs Monate weitete er den Raum auf die Gasse hinter dem Haus aus. Er hatte zwei kleine Kinder, und seine Art zu sehen ergänzte sich wunderbar mit deren Art zu spielen. Erforschend, verweilend, ohne großes Ziel. Der Ansatz des konzeptionellen Fotografen konnte hier nicht ankern. Eine neue Art, mit dem eigenen Sehen zu sein, entstand in dieser Zeit, die ungefähr ein Jahr umfasste. Michael bezeichnet dies als eine sehr zufriedene Zeit, es war kein Ziel definiert, nur eine Ausweitung ins alltägliche Erleben. Er lernte, still und aufnahmefähig zu sein.
1983 wurde er gebeten, dieses Training anderen zu vermitteln. Bei der Analyse seiner Wahrnehmungen und deren Fotografien destillierte er gewisse Komponenten des Sehens und übertrug diese in Übungen, die den Teilnehmern Raum geben, anzukommen im Sehen. Michael Wood gab dem Training den Namen Miksang. Er bedeutet »Pures, gereinigtes Auge«. Für ihn ist dieser Name sein Lebensinhalt, seine Leidenschaft. Er navigiert durch den Prozess, Klarheit und Sicherheit im Ausdruck der eigenen Wahrnehmung zu finden. Michael Wood und Julie DuBose gründeten das Miksang Institute for Contemplative Photography und den Verlag Miksang Publications, bilden Trainerinnen aus, die in Nordamerika, Japan und Europa unterrichten. Die Trainings wandeln sich und nehmen neue Themen auf. Der Umgang mit den andauernden Unterbrechungen der digitalisierten Welt hat viel verändert. Der Zeitgeist ist von Unruhe geprägt und von der Suche nach einer Haltung gegenüber der Flut von Informationen und Wahrnehmungen.
»The first and most essential teaching and practice of Miksang is to realize that our ability to see our world is already pure and unstained – an ability that is inherent. Thoughts and memories are irrelevant. The rest of the journey is to simply apply enough discipline to continue to experience this sense of recognition. That is all there is.«
Michael