Wer wir wären. Norbert Kröll
Ich bleibe an dem Ort, wo das Wasser aus dem Erdinneren sprudelt, stehen. Für ein paar Sekunden schließe ich meine Augen. Reversibel, denke ich – reversibel. Und als ich die Augen wieder öffne, fließt das Wasser rückwärts und wird ins dunkle Loch gesaugt. Als hätte ich nichts anderes erwartet, nehme ich das Ei vom Löffel und werfe es hin zur kleinen Öffnung, in der es, begleitet von einem leisen Gluckern, augenblicklich verschwindet. Meine Füße steigen ins Rinnsal, die Knie beugen sich und mein Kopf nähert sich langsam der Quelle, sodass meine Lippen vom kalten Nass umspült werden. Als wüsste ich genau, was zu tun sei, atme ich tief ein, schiebe den Kopf mit einem kräftigen Ruck durch die Öffnung, zwänge auch meine Schultern hindurch und schlüpfe mit meinem ganzen Körper hinein in den Berg, dessen Felsen schwach zu glühen scheinen. Sogleich sehe ich das Ei vor mir, wie es durch das Strömen des Wassers fortwährend seine Position ändert, schlingert, sich dreht. Meine rechte Hand greift danach. Hier drinnen, sage ich mir, irgendwo hier drinnen, da bin ich mir absolut sicher, kann ich es rückgängig machen, wieder zum rohen Ei werden lassen, das es einmal gewesen ist. Ich kann es umkehren, alles ungeschehen machen. Das kann ich. Solange ich nur weit genug in den Berg hineinschwimme, das Ei fest in meiner Hand, und nicht damit aufhöre, wenn ich einfach nicht aufhöre zu schwimmen.
EINS
Er ist da gewesen … So könnte ich beginnen, wenn man mich gebeten hätte, an seinem Begräbnis eine Rede zu halten. Klaus ist da gewesen, seit meiner Jugend ein Freund, ohne dass ich es gewusst hätte, seine Präsenz lange schon in mir vergraben als verborgener Wunsch oder als etwas, das man zwar nicht besitzen, nach dem man sich aber still sehnen kann.
Der Zettel, von dem ich ablesen würde, hätte teils umgeknickte, teils abgerissene Ecken, meine Hände würden zittern und ich hätte Probleme mit der Entzifferung der krakeligen Schrift. Die Tinte wäre verschmiert, Schweißtropfen würden sich auf meiner Stirn bilden, manche würden vom Dickicht der Augenbrauen aufgenommen, während andere in die Augen geraten und dort ein Brennen hervorrufen würden. Ich könnte das leise Murmeln der Trauergäste vernehmen, das Lachen der Kinder, die noch nicht wüssten, was es bedeutet, zu trauern. Ein Baby würde in der letzten Reihe zu schreien beginnen und mit gespitzten Lippen gierig nach den Brustwarzen seiner Mutter suchen.
Den Zettel würde ich nach kurzem Zögern in der rechten Tasche meines Sakkos verschwinden lassen, das Zerknüllen würde bis in den hintersten Winkel des Kirchenschiffs zu hören sein. Langsam würde ich den Kopf heben, einen Blick in die erste Reihe werfen, zu Klaus’ stumm jammernder, vornübergebeugter Mutter, zu seinem aufrecht dasitzenden, apathisch in die Ferne starrenden und beinahe entrückt wirkenden Vater und zu Martha, seiner Schwester, deren Gesichtsausdruck mir sogar an jenem Tag, an dem die innerlich aufgezogenen Mauern dünner und niedriger wären als sonst, fremd wäre. Anfangs würde ich mit brüchiger Stimme sprechen, dem ungewohnt langen Nachhall meiner Worte lauschend. Mit keinem einzigen Wort, das hätte ich mir geschworen, dürfte ich seine Krankheit erwähnen. Nicht erwähnen, dass er gezwungen war, kurzerhand von Wien nach Kärnten zu ziehen, zurück ins Nest seiner Eltern, die ihn seither fürsorglich pflegten. Ich würde … ach was, gar nichts würde ich. Klaus ist doch nicht gestorben! Natürlich nicht. Jedenfalls nicht für sich, falls man das so sagen kann. Für mich hingegen? Ich weiß es nicht. Warum sonst dieser Aufwand, nur um die Gedanken an ihn ein für alle Mal loszuwerden? Aber wenn er nach wie vor in seinem Elternhaus, irgendwo am Rande eines kleinen Oberkärntner Dorfs, liegend, sitzend oder schlafend, also wenn er dort lebte und seine Existenz nichts mehr mit mir zu tun hätte … es könnte mir egal sein. Aber ich kann einfach nicht aufhören zu fragen: Was, wenn es anders gekommen wäre? Wenn er heute nicht nur am Leben wäre, sondern auch noch leben könnte, wie damals?
Was wäre, wenn. So hätte ich jeden Satz begonnen. Ich hätte bei der Grabrede seinen psychischen Abstieg totgeschwiegen und stattdessen den Trauernden einen alternativen Lebensweg beschrieben. Zuerst hätte ich was wäre, wenn gesagt, und dann hätte ich frei erfunden, wie Klaus zu einem namhaften Künstler geworden wäre, dass ihm nicht nur bei der technischen Ausführung, sondern auch, was seine Einfälle anbelangte, jahrelang niemand das Wasser reichen konnte. Das wäre natürlich eine maßlose Übertreibung gewesen, aber darum geht es schließlich bei Grabreden. Erzählt hätte ich, dass er nach dem mit Auszeichnung abgeschlossenen Studium auf der Akademie von einer namhaften Galerie unter Vertrag genommen worden wäre und einen Preis nach dem anderen abgeräumt hätte, dass man ihn zu wichtigen Gruppenausstellungen eingeladen und ihm bei diesen Gelegenheiten beinahe alle neuen und bisherigen Werke abgekauft hätte, dass es bald zur ersten Einzelausstellung in der Wiener Secession gekommen wäre, dann im Pariser Palais de Tokyo und in der Londoner Serpentine Gallery, später hätte man ihm hohe Würdigungen entgegengebracht, den Ehrendoktortitel der Universität Klagenfurt verliehen und so weiter und so fort. Klaus’ alternatives Leben wäre eines gewesen, dass es wert gewesen wäre, gelebt zu werden. Ja, er hätte Fehler gemacht wie jeder andere auch, er wäre gestolpert, ich hätte ihm, wenn er mich darum gebeten hätte, eine Stütze abgegeben, ich wäre für ihn da gewesen, weil ich gewusst hätte, dass auch er da gewesen wäre, nicht für mich, es hätte schon gereicht, wenn er anwesend gewesen wäre, also in seinem Körper drinnen, völlig da, bewusst.
Die Trauergäste hätten durch zu Trichtern geformten Händen lautstark buh gerufen – buh buh buh, hätten sie gerufen! Denn all das sei falsch. Eine glatte Lüge. Erzähl doch keinen Schmus!, hätten sie geschrien. So sei sein Leben ja nicht verlaufen. Ich solle nichts beschönigen. Die Wahrheit wollten sie hören, das, was Klaus wirklich erlebt habe, und nicht das, was ich in ihn hineindichtete. Ich sei kein Freund, sondern ein Trottel, ein Geschichtendrücker, Hochstapler, Verräter. Ich solle nach Hause gehen, man wolle mich nicht mehr sehen, denn das sei es ja auch gewesen, was ich Klaus angetan hätte, dass ich ihn nämlich nicht mehr hätte sehen wollen, dass ich schließlich irgendwann genug von ihm gehabt hätte, dass ich nicht auf ihn hätte hören wollen, auf seine Hilferufe und flehentlichen Bitten, obwohl da immer noch ein wenig Klaus in ihm gewesen wäre, das hätte man eindeutig gesehen, denn da wäre doch noch sein Körper vor einem gestanden, es wäre eindeutig Klaus gewesen, man hätte ihn auch bei einer Passkontrolle ohne Weiteres identifizieren können, wieso dann ich, sein angeblich bester Freund, es gewagt hätte, ihn im Stich zu lassen, wie ich das nur hätte übers Herz bringen können, eine nahezu unmenschliche Geste wäre es gewesen, gerade ihm gegenüber, jemandem, der jegliche Unterstützung bitter benötigt und meine Zuneigung gebraucht hätte. Ich sei kein Mensch. Denn ein Mensch wäre zu solch einer Tat nicht fähig. Ich solle endlich verschwinden, in der Kirche sei für einen wie mich kein Platz, ich solle mit meiner Anwesenheit bitte nicht den Leichnam beleidigen, ihn vergrämen. Ob ich nicht bemerkt habe, wie sich der Tote im Sarg umgedreht habe, weil er mein an den Haaren herbeigezogenes Geschwafel nicht ertrage, weil er von seinem sogenannten alternativen Lebensweg nichts mehr hören wolle, eine Frechheit sei das, ihm diese Worte zuzumuten, ihm dieses Dasein zuzuschreiben!
Ich hätte es nicht gebraucht, mein anderes Leben. Das hätte Klaus vielleicht in diesem Moment gesagt, wenn er es denn noch hätte sagen können, als Leichnam. Und ich hätte ihm geantwortet, dass er es gewiss nicht gebraucht, aber sehr wohl verdient hätte. Dann hätte ich mich über ihn gebeugt und mein unverdautes Frühstück über sein Gesicht erbrochen, oder nein, zwei Tränen hätten sich aus den Augenwinkeln gelöst, ja genau, so wäre es geschehen, sie wären von meiner Nasenspitze auf seine kalte weiße Stirn getropft, der Raum hätte sich plötzlich zu drehen begonnen wie in einem billig produzierten Märchenfilm, und es hätte nichts gedauert (und auch gar nicht wehgetan), und wir wären wieder in der Ästhetik-Vorlesung gesessen; ich hätte den monoton abgespulten Vortrag des Lehrenden mit einiger Anstrengung verfolgt und hätte, so gut es mir um halb neun Uhr in der Früh möglich ist, Notizen gemacht, während Klaus neben mir gesessen wäre, das Kinn auf die rechte Handfläche gestützt und den Bleistift locker in der Linken, Skizzen zeichnend. Ich hätte den Kopf in seine Richtung gedreht, weil ich sehen wollte, welches Gesicht zu diesen beeindruckend stilsicher gezogenen Strichen gehörte, und es wäre das erste Mal gewesen, dass ich Klaus wahrgenommen hätte. Am Ende der Vorlesung hätte er sich zu mir gewandt, mich angelächelt und gefragt, ob ich so nett wäre und ihm meine Mitschrift für die Anfertigung einer Kopie leihen könnte, denn, wie ich