Mut. Rotraud A. Perner
nicht weg, sondern tragen sie als Zwangsgedanken tagelang mit sich herum (wie wir das von sogenannten Ohrwürmern kennen), und manche glauben, einzig durch Ausagieren ihrer Phantasien sich von diesen befreien zu können – so wie es Oscar Wilde im Bildnis des Dorian Gray formulierte: »Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist ihr nachzugeben.«
Unabhängig davon, ob es sich um Berichterstattung über Selbsttötungen handelt oder Gewalt (egal ob triviale, familiäre oder sexuelle), werden durch Worte geistige Bilder geschaffen; wenn es zu diesen keine Gegenbilder gibt, besteht die Gefahr (oder Chance), dass in entsprechenden Situationen das jeweils entsprechende »Vor-Bild« nachgespielt wird.
Wir alle lernen an Vorbildern, durch Einübung und durch »Lob«. Wenn wir für unser Verhalten Anerkennung – »Anerkennungsenergie« – bekommen, neigen wir zu Wiederholungen, und je öfter man etwas wiederholt, desto stärker ist es in unserem Verhaltensrepertoire verankert. »Semantisches Gedächtnis« heißt dies in der Fachsprache – im Gegensatz zum »episodalen« Gedächtnis, das durch schockierende oder ekstatische Erlebnisse gespeist wird; dabei ist zu bedenken, dass solch eine traumatisierende oder euphorisierende »Episode« durch Wiederholungen vom episodalen ins semantische Gedächtnis wandern kann. Damit lassen sich manche zwanghafte strafbare oder andere sozial problematische Verhaltensweisen erklären.
So hat eine meiner StudentInnen in dem von mir konzipierten und geleiteten Masterstudium PROvokativpädagogik an der Donau-Universität Krems ihre Masterarbeit dem Thema Heldentum gewidmet und dazu mit OberstufenschülerInnen nach Geschlecht getrennt jeweils einen Kurzfilm konzipieren und realisieren lassen und diese Prozesse begleitet, kommentiert und dokumentiert. Bei den Burschen kam eine Art Action-Movie mit all den traditionellen Männlichkeitsklischees heraus, bei den Mädchen eine Lovestory mit einem Retter für die ungerecht behandelte Heldin. Beides bewahrheitete neuerlich die Erfahrung, dass lieber Altgewohntes multipliziert wird, anstatt etwas Ungewohntes zu wagen.
Zivilcourage
Wenn also immer wieder der Ruf nach mehr Zivilcourage laut wird, so braucht dies alltagstaugliche Vorbilder, und diese könnten durchaus auch die audiovisuellen Medien liefern – anstatt immer nur Negativbeispiele von altmodischem Heldentum bestehend aus Kampfszenen (und List und Tücke). Denn bei aller Wertschätzung gegenüber dem Mann und der jungen Frau, die sich beide in Deutschland in Raufereien eingeschaltet hatten und dabei zu Tode kamen und in »Nachrufen« in den Medien wegen ihrer Zivilcourage belobigt wurden – die Öffentlichkeit hat nur erfahren, was im Fall des Mannes die Kamera am Bahnhof aufgezeichnet hat bzw. was in beiden Fällen in der Tagesberichterstattung publiziert wurde, nicht aber, was konkret gesprochen wurde. Genau das – Sprache – aber ist der Angelpunkt, ob eine »Kommunikation« gelingt oder misslingt.
Sprache ist der Angelpunkt, ob eine »Kommunikation« gelingt oder misslingt.
Da Resümee meiner jahrzehntelangen Forschungen zu Gewalt gegen andere wie auch gegen sich selbst lautet: Sie wurzelt immer in einem – meist unbewussten – Vergleich. Entweder man vergleicht sich mit jemand anderem und fühlt sich unterlegen – dann versucht man den anderen oder die andere klein oder zu Nichts zu machen, also als bedrohliche Gefahr zu »vernichten«; oder man vergleicht sich in der augenblicklichen Situation mit dem eigenen Idealbild (das kann auch von einer Autorität vorgegeben und verinnerlicht worden sein) und versucht, das eigene Negativbild wegzubekommen. Zu dieser Entschlüsselung zählt auch die Identifikation mit jemand anderem, dem oder der Unrecht geschieht: Auch in diesem Fall folgt man einem Vorbild, mit dem man sich vergleicht, und ist dementsprechend entweder zurückhaltend oder vorpreschend, aber kaum »besonnen«. Die Augenblicksdynamik läuft so schnell ab, dass man kaum mit dem Denken nachkommt … Außer man hat dies »erlernt«, was bedeutet: wiederholt eingeübt und damit neuronal verfestigt.
In Krisenberufen, wo es darum geht, einem minutiösen Zeitplan zu folgen (wie beispielsweise in der Chirurgie, bei Feuerwehr, Militär, Polizei, aber auch in den »darstellenden« Berufen, ganze Orchester mitgemeint), werden die einzelnen Verhaltensschritte immer wieder eingeübt. Alle anderen Menschen kennen meist nur den Probe-Feueralarm aus ihrer Schulzeit: in Zweierreihen anstellen und eine bestimmte Wegstrecke diszipliniert, d.h. ohne zu drängen, und nach Anweisung gehen. Heute, wo der internationale Terrorismus zunimmt, braucht es aber für uns alle ein situationsgemäßes Verhaltensrepertoire. Die »Dornröschen-Strategie« – alle Spindeln verbieten, Dornröschen könnte sich ja stechen und den Fluch der bösen Fee erfüllen – nützt nicht, es kann ja immer jemand heimlich eine neue Spindel basteln. Es hilft nur umfassende Aufklärung und Bewältigungsmethoden einzuüben. Deswegen bin ich auch dafür, dass Landesverteidigung nicht mehr nur darin bestehen darf, körperlich für Notfallszenarien vorzubereiten, sondern Männer wie Frauen gleichermaßen umfassend auf Achtsamkeit und kreative Problemlösungen für jedwede Gefährdung unserer Sicherheit – Strom- und Wasserleitungen mitbedacht, aber auch psychotische Reaktionen traumatisierter Menschen berücksichtigend – zu trainieren.
Es gibt für alles immer noch eine zweite, dritte oder sonstwie andere Methodik; eine findet man in den sogenannten östlichen Kampftechniken: sich in die Gefahr – und die Gefahrenquelle – einfühlen und sie »von innen her« verstehen. So wie der Zen-Bogenschütze mit seinem Ziel »blind«, d.h. ohne einseitig »technischen« Denk-Akt, verschmilzt und daher auch im Dunkeln treffen kann, kann man auch mit jedem anderen Gegenüber »eins werden«. Der japanisch-amerikanische Professor der Buddhistischen Philosophie Daisetz Teitaro Suzuki schreibt im Vorwort zu Eugen Herrigels Zen in der Kunst des Borgenschießens: »Um wirklich Meister des Bogenschießens zu sein, genügen technische Kenntnisse nicht. Die Technik muss überschritten werden, so dass das Können zu einer ›nicht gekonnten Kunst‹ wird, die aus dem Unbewussten erwächst.« Schütze und Scheibe sind dann nicht mehr zwei entgegengesetzte Dinge, sondern eine einzige Wirklichkeit. Im Christentum nennen wir das »lieben«. In diesem Sinne könnte man daher auch formulieren: Mut besteht darin, der jeweiligen Angst liebend zu begegnen.
Helfer Angst
Nun sagt man zwar, Mut erwachse aus der Überwindung von Angst, aber eigentlich ist solch ein »Sieg« nicht wirklich Mut, sondern nur ein Schritt weiter von dem Hängenbleiben in der Angst hin zu ihrer Integration. Diese beinhaltet immer auch Vernunft und Selbstfürsorge. Andernfalls würde es sich um Risikoblindheit handeln.
Das Wort Angst stammt von dem lateinischen angustus, »eng«. Wenn man Angst bekommt, pflegt man unwillkürlich den Atem anzuhalten – der Feind soll einen ja nicht hören und orten können – und die Schultern hoch und nach vorne zu ziehen – es soll ja einerseits die Halsschlagader, andererseits Herz, Lunge und Gedärm geschützt werden. Überhaupt werden die Angriffsflächen des Körpers verkleinert. Dass der Herzschlag stockt und Adrenalin ausgeschüttet wird, gehört auch zu diesem Totstellreflex – er soll die augenblicklich unnütze Reizwahrnehmung ausblenden, damit man die Gefahrensignale besser hören und spüren kann. Kurz darauf fällt dann die Entscheidung, ob man flüchten will oder sich der Gefahr stellen – und diese Wahl hängt davon ab, was man »gelernt«, d. h. welche neuronalen Muster man im Nervengeflecht für solche Herausforderungen »verankert« hat. Wer keine derartigen Erfahrungen besitzt, pflegt sich urtümlich wie ein Tier zu verhalten: Dann kämpft oder flüchtet man nicht, sondern »stellt sich tot«: Man ist in »Schockstarre« gelähmt.
Viele kennen das aus Prüfungssituationen: Da haben die einen das Gefühl, der Herzschlag sei gestockt und der Kopf mit Beton ausgefüllt, während die anderen mit Herzrasen und Schwindel reagieren. Dann liegt es an der Sensibilität und Humanität der Prüfenden, durch winzige Fragen in die angepeilte Richtung der dissoziierten – ohne Fachausdruck: »weg getretenen« – Person zu helfen, »wieder zu sich zu kommen«.
Mut besteht darin, der jeweiligen Angst liebend zu begegnen.
Mut ist keine militärisch oder quasimilitärisch eintrainierte Eigenschaft (wie uns vielfach weisgemacht wird) – das wäre nur gedankenlose Befehlstreue –, sondern ein Prozess. Mut beginnt mit der Wahrnehmung, dass etwas nicht »stimmt« – dass unsere innere Stimme uns sagt, dass etwas nicht so sein sollte wie es sich augenblicklich darstellt, und dass es geändert gehört. Wie, ist in diesem Moment noch nicht klar. Das Warum ist jeweils auch