Leonard Bernstein. Michael Horowitz
Die Klänge sind in meinem Kopf – und sie müssen heraus.
Viele Jahre später erinnerte sich Leonard in einem Gespräch mit Peter Gradenwitz, einem befreundeten Musikwissenschaftler: »Ich war ein kleiner, schwacher, kränklicher Junge, blass, unglücklich, hatte immer Bronchitis oder Ähnliches …« Erst im Alter von zehn Jahren »… passierte das mit dem Klavier. Plötzlich fand ich meine Welt. Ich wurde innerlich stark, ich wuchs, wurde sogar sehr groß. Ich trieb Sport, gewann Medaillen und Pokale, war der beste Taucher. Es geschah alles gleichzeitig. Es veränderte mein Leben. Das Geheimnis, die Erklärung ist, dass ich ein Universum fand, in dem ich sicher war: die Musik. Ich war in ihm beschützt, ich hatte in ihm ein Heim. Niemand konnte mir mehr etwas anhaben, mir wehtun. Auch nicht mein eigener Vater. Niemand konnte mich verletzen, wenn ich in meiner Welt der Musik war, wenn ich am Klavier saß. Das war meine Sicherheit.« Aus Platzmangel hatte eine Tante ihr altes, verstimmtes Klavier bei der Familie Bernstein deponiert. Samuel Bernsteins Schwester Clara, die in der Nähe gewohnt hatte, war nach New York gezogen. Ihr Piano blieb bei Bruder Sam zurück.
Der zehnjährige Lenny stürzte sich mit einer für den Vater fast beängstigenden Leidenschaft auf das Instrument, um sich Melodien und Akkorde zusammenzusuchen. Das Klavier hatte ein Mandolinenpedal, wenn man es betätigte, ertönte ein verknautschter Mandolinenklang. In jeder freien Minute hämmerte der Bub, sehr zum Missvergnügen des Vaters, auf dem Klavier herum, um bekannte Schlager, die er im Radio gehört hatte, nach dem Gehör zu rekonstruieren. Die erste Nummer, die Leonard Bernstein auf Tante Claras Klavier spielte, war Goodnight Sweetheart. »Ich war im siebten Himmel«, erinnerte er sich später. Seit Tante Claras altes Klavier im Haus war, verbesserte sich Lennys labiler Gesundheitszustand, und er wurde selbstbewusster.
Schon als kleiner Bub war Leonard Bernstein von Musik fasziniert gewesen: Die Orgelklänge und der fast opernhafte liturgische Gesang des Chors in der strengkonservativen Mischkan-Tefila-Synagoge rührten ihn immer wieder zu Tränen. Auch die chassidischen Melodien aus dem Victrola-Grammophon, einem Erbstück von Jennies Vater, die Papa Sam lautstark unter der Dusche mitsang, begeisterten Lenny. »Leonard war zu klein, um an die Aufziehkurbel zu reichen«, erinnerte sich Mama Jennie, »er weinte fürchterlich, die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Dann schrie er: ›Moinik, Moinik‹ – ›Musik, Musik‹ –, ich stellte das Grammophon an, spielte ihm eine Platte vor und augenblicklich hörte er auf zu weinen.« Jennie nannte ihren Sohn schon sehr früh den »Fensterbrettpianisten«, denn er saß oft im Zimmer zur Straße auf dem Fensterbrett und lauschte dem Victrola-Grammophon und populären Schlagern wie Oh by Jingo. Er klopfte rhythmisch zur Musik, während er durch das Fenster Passanten beobachtete.
Später faszinierte den jungen Lenny der Radioapparat. Seine Kindheit fiel in jene Zeit, während der die große Ära des Rundfunks begann. Im Alter beschrieb er wehmütig, wie er lange Nachmittage an den drei Skalen eines Atwater-Kent-Überlagerungsempfängers gedreht und gelauscht hatte: »Mit einigem Glück hatte man den Sender schließlich drin. Man hörte jede Menge Knistern und Rauschen, doch irgendwie konnte man Rudy Vallee (Ende der Zwanzigerjahre) und Jack Benny (Anfang der Dreißigerjahre) heraushören.« Sein ganzes Leben lang konnte Bernstein die Namen und Erkennungsmelodien von mehr als zehn Musiksendungen herunterträllern, die er während seiner Kindheit im Rundfunk verfolgt hatte.
Doch weder im Kindergarten noch in seiner ersten Schule, der William Lloyd Garrison Grammar School in Roxbury, die Lenny vom sechsten bis zum elften Lebensjahr besuchte, erkannte man seine musikalische Begabung. Er erinnerte sich später nur, dass ihm »von einer wunderbaren Lehrerin Namens Miss Donnelly, in die ich sehr verliebt war« eine simple Methode des Notenlesens beigebracht wurde, worin er »der Beste in der Klasse war«. Er hatte nur angenehme, wohltuende Erinnerungen an die ersten Schuljahre und an seine Lehrerinnen: »Alles, was sie mir beibrachten, lernte ich mit Freude, ob Geschichte oder Rechtschreibung, ob so Lustiges wie Zeichnen mit Kreide oder so Langweiliges wie Schönschreiben. Sie hatten einfach Spaß am Unterrichten und wir haben entsprechend mitgemacht. Für mich waren die schönsten Stunden natürlich die Singstunden; Mrs. Fitzgerald brachte uns einige Dutzend Lieder bei … nie vergesse ich diese reizenden Damen; sie hatten eine ganz besondere Art, vielleicht weil sie gute, altmodische Bostoner Katholikinnen waren.«
Nach sechs glücklichen Schuljahren wurde der Elfjährige 1929 in die bereits 1635, ein Jahr vor der Harvard University, gegründete renommierte Boston Latin School aufgenommen. Eine liberale Bastion, die älteste noch existierende Schule der USA, stand Schülern jeglicher Herkunft offen. Nur die Leistung zählte. Gerne erinnerte sich Leonard Bernstein an seine Aufnahmeprüfung in der High School, die er gemeinsam mit seinem Freund Sammy Kostic absolvierte: »Wir standen mit klopfenden Herzen in einer langen, langen Reihe von Bewerbern und legten schließlich unsere Zeugnisse jemandem vor, der das Wort exempt darauf stempelte. Wir hatten keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete; wir dachten, es hieß ausgeschieden, denn exempt klingt irgendwie nach aus, doch in Wirklichkeit bedeutete es von weiteren Prüfungen ausgenommen. Mit anderen Worten, wir waren zugelassen – wir sprangen vor Freude in die Luft.«
Einer von Lennys High School-Professoren war der Englischlehrer Philip Marson, der sich zu einer der ersten Vaterfiguren Bernsteins entwickelte. Der erfahrene Pädagoge wurde sehr bald zu einer verständnisvollen, bestimmenden Persönlichkeit für Lenny und zu einem Gegengewicht zu seinem despotischen, intoleranten Vater. Philip Marson lehrte Lenny liebevoll, wie man lernt. Er erinnerte sich, wie sein Schüler »alles gierig aufnahm, was ich an Dramen und Gedichten bieten konnte, und mit voller Aufmerksamkeit auf dem ersten Platz in der zweiten Reihe saß.«
Das Haus der Familie war viele Kilometer von der Schule entfernt. Lenny musste »sehr früh aufstehen und mit verschiedenen Hoch- und Straßenbahnen fahren, die unter lautem clang, clang, clang auf Schienen rollten. Während der ersten beiden High School-Jahre kehrte ich nach dem Unterricht eilig nach Roxbury zurück, um noch den Hebräisch-Unterricht in der Synagoge zu besuchen.« Danach konnte der passable fire baseman hinter dem Haus noch eine Runde Baseball spielen. »Doch gegen halb sechs sagte ich dann immer: ›Tut mir leid, Jungs, ich muss gehen.‹ Ich wurde mit Schreien, Pfiffen und höhnischen Sprüchen wie ›Homo, Homo, Weichling‹ niedergemacht – eine unvorstellbare Peinigung. Ich ging, um meine Hausaufgaben zu machen …«
KAPITEL 5
Der Partyheld, der Klavier spielen konnte
Früher oder später trotzt jeder Sohn seinem Vater, streitet mit ihm, verlässt ihn, nur um zu ihm zurückzukehren und – wenn er Glück hat – sich bei ihm geborgener zu fühlen als zuvor.
Wann immer die Familie Bernstein bei Freunden mit einem Klavier eingeladen war, klimperte Lenny drauflos. Seine Liebe zur Musik war bald für alle erkennbar. Die Mutter zeigte sofort Verständnis für die erwachende Musikalität ihres Sohnes. Doch sie hatte im Hause Bernstein nicht viel zu sagen. Der autoritäre Vater hielt nichts von den musikalischen Anwandlungen Lennys: »Er war beunruhigt, er liebte mich, er wollte für mich nur das Beste«, erinnerte sich Lenny später, »Sicherheit für meinen Lebensweg war für ihn das Wichtigste. Ich sollte in sein – allmählich florierendes – Geschäft, die Bernstein Hair Company, eintreten oder wie unsere Vorfahren Rabbiner werden. Aber Musik? Vaters Vorstellungen von einem Berufsmusiker stammten noch aus dem russischen Ghetto; er hatte das Bild eines Klesmer vor Augen, der kaum mehr darstellte als einen Schnorrer, der mit einer Klarinette oder Violine von Stadt zu Stadt zog und für Almosen, ein paar Kopeken und ein kostenloses Essen, nächtelang auf Hochzeiten oder Bar Mizwas spielte. Er wollte nicht, dass sein Sohn ein Bettler würde.«
Eines Nachts wurde die Familie durch Lennys Klavier-Klimpern aufgeweckt: »Bist du meschugge? Es ist zwei Uhr früh«, schrie der Vater. Sein Sohn antwortete ihm: »Ich muss spielen, die Klänge sind in meinem Kopf und sie müssen hinaus.« Irgendwann kapitulierte Sam Bernstein und fand sich damit ab, dass der Bub jede freie Minute am Klavier verbrachte. Der Weg Lennys schien vorgezeichnet zu sein. Und auf dessen Bitten willigte Sam schließlich ein, ihm bei einer in der Nachbarschaft wohnenden Lehrerin Unterricht geben zu lassen. Für einen Dollar pro Stunde. Zwei Jahre lang kam die »dunkle, unglaublich attraktive und exotisch aussehende