Singapore Nights. Kelly Stevens
intensiv auf mir zu spüren.
„Ein gutes Buch“, bemerkt seine Frau, „obwohl ich das nicht selbst sagen sollte.“
Dann bewegen sich die Menschen, die den Gang vor ihnen versperrt haben, und die beiden gehen weiter.
Mir ist heiß. Ich ziehe meinen Blazer aus und lege ihn in das Gepäckfach über mir. In diesem Moment kommt mein Sitznachbar, ein Asiate. Nicht der, der vorhin die Diskussion am Schalter verursacht hatte, aber ein nicht minder unangenehmer Zeitgenosse, denn er macht sich gleich unter lautem Geschnaufe in seinem Sitz breit, und in einem Teil von meinem gleich mit. Sind Asiaten nicht alle nett, höflich und zurückhaltend? Offenbar nicht.
Der Gedanke, die nächsten zwölf Stunden eingepfercht neben ihm sitzen zu müssen, ist kein angenehmer. Ich wickele mich in die dünne Decke, die die Fluggesellschaft zur Verfügung gestellt hat, und nehme den Roman zur Hand.
Hola, ist der heiß. Ich bekomme kaum mit, wie das Flugzeug startet und auf Reiseflughöhe steigt. Es geht um eine junge Frau, die einen faszinierenden, aber geheimnisvollen Mann kennenlernt und ihm schnell sexuell hörig wird. Gerade, als sie gemeinsam eine Party in einem Schloss besuchen, bei der alle Gäste maskiert sind, teilt die Flugbegleiterin das Essen aus.
Fast bin ich irritiert über die Störung. Der Mann neben mir schaufelt mittels Stäbchen Reis mit Fleisch in irgendeiner Soße in sich hinein und schmatzt dabei lautstark. Ich habe mich für das andere Gericht entschieden, gebratene Nudeln mit Gemüse und Garnelen sowie ein viel zu süßes Stück Kuchen, das ich nach dem ersten Bissen stehen lasse. Dazu trinke ich stilles Wasser, weil mir die Luft in der Flugzeugkabine sehr trocken vorkommt.
Kaum habe ich fertig gegessen, tauche ich wieder in die Partyszene ein. Die Frau wird in eine Art Verlies im Schlosskeller gebracht, wo sie sich entkleiden muss und von zwei Männern gefesselt wird. Ihr Geliebter ist die ganze Zeit dabei, gibt sogar Anweisungen, während die beiden sie erniedrigen und sich gleichzeitig an ihr vergehen, bis sie einen Orgasmus hat.
Ich lasse das Buch sinken. Ein Teil von mir ist fassungslos. So etwas soll Spaß machen? Der andere ist … nein, darüber will ich jetzt lieber nicht nachdenken, aber mein Kopfkino läuft gerade auf Hochtouren. Bin ich pervers, weil mich diese Szene erregt? Das ist doch nicht normal. Andererseits – die Frau sagte vorhin, dass es ein gutes Buch sei. Sie muss es also gelesen haben. Und ihr Mann … Ob die beiden auch solche Praktiken ausleben? Nein, daran zu denken, ist gerade eine ganz schlechte Idee. Solche Romane sollte man nicht in der Öffentlichkeit lesen!
Ich fächele mir mit einem der Wirtschaftsmagazine Luft zu. Der Frankfurter Flughafen ist gut sortiert, es gab tatsächlich eine branchenspezifische Zeitschrift. Vielleicht, weil in Frankfurt inzwischen auch einige Fonds ansässig sind.
Das bringt meine Gedanken zurück zum gestrigen Vormittag. Der Grund, warum ich nicht von London, sondern von Frankfurt aus fliege, ist offiziell, dass mein Vater seinen sechzigsten Geburtstag feierte und ich schon vor Monaten ein paar Tage Urlaub beantragt hatte, um dabei zu sein. Der zweite Grund ist, dass ich einen Termin bei einem Headhunter hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es wäre an der Zeit, London allmählich den Rücken zu kehren und wieder zurück nach Deutschland, idealerweise nach Frankfurt, zu kommen.
Ich seufze. Das Gespräch hätte ich mir sparen können. Der Headhunter entpuppte sich als junger Schnösel, der während unseres Gesprächs mehr Zeit damit zubrachte, mir zu erzählen, wie toll er sei, als dass er sich für meine Qualifikationen interessierte. Am Ende wischte er alles, was ich bisher gemacht hatte, mit einem lapidaren „als Frau können Sie froh sein, wenn Sie hier einen Zeitarbeitsvertrag im Back Office bekommen“, beiseite.
Ich habe ihm nicht gesagt, wohin er sich seinen Zeitarbeitsvertrag im Back Office stecken konnte, sondern freundlich gelächelt mich sogar noch für das Gespräch bedankt. Erst hinterher kam die Wut. Wut auf ihn, dass er seine eigene Unzulänglichkeit – denn nichts anderes konnte der Grund sein, dass er nicht zum Portfolio Manager aufgestiegen war, sondern sich jetzt als Headhunter abrackerte – an seinen Klientinnen ausließ. Wut auf mich selbst, dass ich nicht den Mut hatte, klar zu fordern, was ich wollte. Wut, dass die Branche um mich herum ein Haifischbecken ist. Und Angst, dass ich nicht gut genug bin, um in diesem Haifischbecken zu bestehen.
Manchmal fühle ich mich, als sei ich der einzige Goldfisch in einem großen Becken voller Haie. Ein Goldfisch mit einer Haifischflosse als Tarnkappe. Ansonsten hätte ich in dem Business nicht so lange überlebt.
Es ist eine verdammte Männerdomäne, denke ich und blättere um zu den Branchennews. Auch hier geht es wieder nur um Männer: Mein ehemaliger Arbeitgeber hat einen großen Deal in den USA gemacht, einen Deal, den ich noch geholfen hatte, einzufädeln. Den Bonus dafür wird jetzt wohl mein ExChef einsacken. Ein Fonds hat einen neuen Vertriebsleiter für Deutschland. Von dem Foto lächelt mich ein maximal Dreißigjähriger mit gegelten Haaren und einem schmierigen Lächeln an. Marc Aschenberg hat, zusammen mit zwei weiteren Männern, eine eigene Fondsgesellschaft in Frankfurt gegründet und will die Venture Capital- und Private Equity Szene ein bisschen aufmischen. Sein Name sagt mir etwas: Er muss ein ziemlicher Überflieger sein. Wir sind beide in Frankfurt zur Uni gegangen, wenngleich er zwei Jahre, bevor ich anfing, bereits seinen Abschluss gemacht hat. Danach ging er für seinen Master ans berühmten INSEAD in Paris und Singapur. Die letzten Jahre war er bei einem mittelgroßen Fonds in New York, einige Zeit als Portfolio Manager, zuletzt als Investment Director. Merkwürdig, dass jemand von solch einer Position wieder zurück nach Frankfurt zieht, um noch einmal neu anzufangen.
Andererseits – ich reiße die Seite heraus, falte sie und stecke sie als Lesezeichen in mein Buch. Wer weiß, wenn sie gerade eine neue Firma aufbauen, könnte ich mich vielleicht direkt bei ihnen bewerben, ohne den Umweg über einen Headhunter?
Ich trinke noch einen Schluck Wasser. Wirklich beruhigt habe ich mich von der Szene in dem Roman noch immer noch, und auch, mich noch einmal über den Headhunter aufzuregen, war nicht hilfreich. Ich fühle mich aufgekratzt und hellwach. Der Asiate neben mir schnarcht zusammengesackt in seinem Sitz und kommt dabei mit seinem Kopf meiner Armlehne gefährlich nahe. Unwillkürlich läuft mir ein Ekelschauer über den Rücken. Ich mag es nicht, von Männern berührt zu werden, und von fremden Männern schon mal gar nicht.
Ich stehe auf und strecke mich, einerseits, um von ihm weg zu kommen, andererseits, um die Durchblutung anzuregen. Eigentlich könnte ich auch mal auf die Toilette gehen.
Suchend schaue ich mich nach den Hinweisschildern um. Die Toilette der Business Class ist näher als die der Economy, und vor letzterer steht eine Frau und wartet. Einen winzigen Moment zögere ich – es ist sicher nicht erlaubt, aber ich hoffe, dass es niemand merken wird, wenn ich schnell durch den Vorhang nach vorne schlüpfe.
Gedacht, getan. Gerade, als ich mich der Tür nähere, wird sie entriegelt, öffnet sich einen Spalt breit, und die Frau mit dem grün-braunen Kleid kommt heraus. Sie schaut nicht rechts und nicht links, sondern geht mit wiegenden Schritten zu ihrem Platz. Irgendwie sieht sie aus wie die Katze, die gerade ein ganzes Schüsselchen mit Sahne ausgeschleckt hat. Satt und zufrieden.
Während ich anscheinend mal wieder unsichtbar bin.
Ich straffe innerlich die Schultern und lege gerade die Hand auf die Falttür, als diese von innen geöffnet wird. Von innen? Irritiert schaue ich der blonden Frau hinterher und dann zurück, genau in ein paar braune Augen. Von da abwärts zu einem Dreitagebart und wieder zurück zu braunen Augen.
Aber was macht er … Er wartet, bis mir dämmert, was die beiden gemacht haben müssen. „Sie … Sie …“, stammele ich und merke, wie mir die Röte ins Gesicht schießt. Dabei habe doch ich ihn ertappt.
„Bitte“, sagt er und will an mir vorbei, aber ich stehe wie angewurzelt in der Tür, so dass kein Platz für ihn ist. „Es sei denn, Sie haben Lust …?“ Das letzte sagt er mit einer kokett hochgezogenen Augenbraue. Was für ein Charmeur.
Normalerweise würde ich in so einer Situation die Flucht ergreifen. Aber normalerweise komme ich ja gar nicht erst in solche Situationen, deshalb reagiere ich nicht so, wie ich es von mir selbst erwartet hätte.
„Ich weiß nicht“, antworte ich zuckersüß.