Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Georg von Wallwitz

Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt - Georg von Wallwitz


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Einflüsse haben meiner Meinung nach vor allen anderen das 20. Jahrhundert geprägt. Der eine ist die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technologie – gewiss die größte Erfolgsgeschichte unserer Zeit […] Der andere besteht zweifellos aus den großen ideologischen Stürmen, welche das Leben fast der gesamten Menschheit verändert haben«,1 schreibt Isaiah Berlin, einer der besten Zeugen seiner Zeit. Besteht der Mantel der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach außen hin aus Krieg, Vernichtung und Vertreibung, aus Ideologien, Rassismus und blindem Eifer, so ist sein Innenfutter aus der phänomenalen Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft gewoben, welche die Gestalt des Jahrhunderts mindestens so sehr geprägt hat. Über die Tyrannen, denen im 20. Jahrhundert niemand aus dem Weg gehen konnte, ist viel geschrieben und gestritten worden – womöglich mehr, als sie es verdient haben. Vielleicht stellt man in 200 Jahren aber fest, dass die Ideen und Methoden, die in dieser Zeit in Mathematik und Physik erdacht wurden, den Gang der Geschichte nachhaltiger verändert haben als die Grausamkeit der Ideologen.

      In einer für die Mathematik glorreichen Zeit war Hilbert das überragende Oberhaupt einer Schule, die Naturwissenschaften und Technik die Mittel an die Hand gab, die Welt neu zu begreifen. Diese Schule zog begabte junge Menschen aus der ganzen Welt an, einen sehr bunten und genialen Haufen von Menschen, unkonventionell in jeder Hinsicht. Für seine Schüler setzte er sich bedingungslos ein, wie etwa für Emmy Noether, die er als Dozentin kaum durchsetzen konnte gegen seine dem Frauenbild des Kaiserreichs verpflichteten Kollegen von der Philosophischen Fakultät (und auch das nur unter dem Verweis auf den Unterschied zwischen Fakultät und Badeanstalt). Sein Markenzeichen war die im Sinne des großen Euklid benannte axiomatische Methode, in der sich der Ehrgeiz ausdrückte, des Pudels Kern nicht nur zu verstehen, sondern das Tier auch auf logisch einwandfreie, formale Weise wieder zusammenzusetzen. Sie ist der Versuch, die Dinge von ihrer inneren Logik her zu verstehen. Gedanklich war das eine Revolution, der Bruch mit einer romantischen Tradition, die den Mathematiker nur seiner genialen Intuition verpflichtet sah.

      Das mathematische Wissen hat den Aufbau einer Pyramide. Die meisten von uns haben in der Schule eine im Kern dunkle Wissenschaft erlebt, die aus der richtigen Anwendung auswendig gelernter Formeln besteht und erst durch den Einsatz von Taschenrechnern erträglich wird. Diese Schulmathematik ist die breite Basis der Pyramide und objektiv langweilig – diese Ahnung der Amateure kann jeder Profi bestätigen. Mathematik ist aber, wie die Profis im selben Atemzug beteuern, auch interessant und schön. Interessant wird es dort, wo die Mathematik mit der Realität in Berührung kommt und anschaulich wird. Ein sehr großer Teil der Mathematik ist aus der Beschäftigung mit konkreten Problemen entstanden und an dieser Nahtstelle zwischen Geist und Natur wird sie greifbar. Etwa wenn sich die Orientierungsleistung von Tunesischen Wüstenameisen am besten als ein Operieren mit Vektoren begreifen lässt, oder wo das klügste Vorgehen im Glücksspiel Thema der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird. Schön ist die Mathematik an der Spitze der Pyramide, wo sie zu einer ästhetischen Erfahrung werden kann, wenn der mühevolle Aufstieg in Zahlentheorie, Topologie oder Algebra mit einer Ahnung von ewiger Wahrheit und Harmonie belohnt wird. Sie hat dort viel mit Inspiration und einem freien Spiel der Formen zu tun, die von alters her mit der sinnlichen Erfahrung von Schönheit assoziiert werden. Wenn das strenge Gerüst der mathematischen Begriffsbildung erst einmal gemeistert ist, bietet sich ein völlig anderes Bild. Es ist, als rage die Spitze der Pyramide aus einem Wolkenmeer unscharfer und unzusammenhängender Begriffe heraus.

      Laien sind in der Mathematik gut beraten, sich nicht durch das Formelgestrüpp zu hauen, welches zwischen ihnen und den guten Gedanken an der Spitze der Pyramide wuchert, sondern zunächst auf den Stil und den Weg achten. Wie liest man also als Laie ein Buch über einen Mathematiker? In jeder Fachsprache finden sich Wendungen, die den Praktikern erst durch lange Übung so vertraut geworden sind wie dem Tänzer seine Schrittfolge. Wenn nun im vorliegenden Buch Begriffe und Passagen vorkommen, die undeutlich bleiben, bitte ich den Leser um die Nachsicht und den Mut, über das Schwierige zunächst hinwegzulesen und sich an die Essenz zu halten. Es geht hier nicht um exakte Definitionen, sondern um eine Reihe großartiger Ideen, die zum Wirkungsmächtigsten gehören, was das vergangene Jahrhundert zu bieten hatte. Das meiste von dem, was über die Schulmathematik hinausgeht, habe ich daher in Fußnoten verbannt, die mit dem Kürzel FfF, Fußnote für Fortgeschrittene, gekennzeichnet sind.

      Eine zunächst oberflächliche Lektüre ist unter Mathematikern nicht ehrenrührig. Auch sie springen gerne, wenn sie eine Abhandlung lesen, über schwierig erscheinende Passagen hinweg. Zunächst lesen sie gewöhnlich nur die Sätze, die das Destillat der Überlegungen sind. Sie wissen zwar, dass oft nur die Begründung den Sinn eines Satzes klarmacht. Aber dennoch, erst wenn sie das Gefühl haben, es steckt eine gute Idee darin, vollziehen sie die Beweisketten nach. Nicht jeder Mathematiker ist fleißig und leidenswillig. Ihre Leser müssen es nicht anders halten.

       Non omnis moriar

      Horaz, Oden 3,30

      2. Ungehaltener Nekrolog

      David Hilberts Beerdigung muss als verunglückt gelten. Er war schon zum Zeitpunkt seines Todes unstreitig der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit, also für sein Fach das, was Einstein für die Physik darstellte. Aber die Welt hatte, als er am 14. Februar 1943 starb, andere Sorgen. Das friedliche Dahinscheiden eines 81-jährigen Mathematikprofessors in Göttingen war ein entschieden undramatisches Ereignis in einer Zeit, in der ein jedes Leben in Europa und Asien jederzeit gewaltsam enden konnte. Die Trauergemeinde war überschaubar, sie bestand allenfalls aus einem Dutzend Personen, den letzten Relikten eines zehn Jahre zuvor untergegangenen goldenen Zeitalters.

      Da Hilbert schon lange keiner Kirche mehr angehört hatte, fand die Zeremonie im Wohnzimmer im Erdgeschoss seines Hauses in der gutbürgerlichen Wilhelm-Weber-Straße statt. Der große Raum blickte in einen winterlichen Garten. Der angestaubten Einrichtung merkte man das Alter der Bewohner und die fortgeschrittene Erblindung der Hausfrau deutlich an.

      Arnold Sommerfeld, neben Max Planck der Doyen der in Deutschland verbliebenen Physiker und mit 81 Nominierungen so oft wie kein anderer für den Nobelpreis vorgeschlagen, war aus München gekommen und hielt eine kurze, unbeholfene Ansprache auf den hohen Toten, die sich im Wesentlichen auf eine Aufzählung von dessen akademischen Leistungen beschränkte. Constantin Carathéodory, ein im Osmanischen Reich aufgewachsener Mathematiker, vielleicht der wichtigste von den in Deutschland verbliebenen, ließ sich entschuldigen, schickte aber einen kurzen Nachruf. Sein kurzer Text, ebenfalls kein großer Wurf, wurde unter Tränen verlesen und handelte immerhin am Rande von Hilberts Persönlichkeit.

      Die Grabredner hatten einen verlässlichen Freund vom Schlage eines ostpreußischen Bauern verloren, zugleich aber auch den Mentor der gesamten mathematischen Naturwissenschaften. Über das Wichtigste im Lebenslauf des Toten konnte freilich kaum geredet werden. Das nämlich waren die endlosen Gespräche auf den immer gleichen Wanderungen, die Hilbert mit seinen Studenten, Assistenten und Kollegen unternommen hatte. Dabei war ein einzigartiges Netzwerk entstanden, in welchem Logik, Mathematik, Physik und Philosophie so eng wie nie zuvor miteinander verwoben waren. Die weitaus meisten von Hilberts Weggefährten mussten dabei (wenigstens in der schriftlichen Version der Grabreden) unerwähnt bleiben, denn viele von ihnen waren Juden oder Gegner des Nationalsozialismus und hatten Deutschland verlassen, so lange es noch möglich war. Wie aber sollte man über einen Sokrates reden, für den das Gespräch die wichtigste Quelle der Erkenntnis war, wenn man kein Wort über seine Dialogpartner verlieren durfte? Der Weg zum Grab wurde so zum Geisterzug, der eher aus Abwesenden als Anwesenden bestand. Die Trauernden blieben mit ihrem Gedanken an eine unaussprechliche und unwiederbringliche Vergangenheit allein. Sie waren sich ihrer eigenen Verlorenheit schmerzlich bewusst, und mancher mag etwas neidisch auf den Toten geblickt haben, der diese trostlose Zeit nun hinter sich hatte. Wären doch nur die Grabreden gelungen!2

      Die Welt ging unterdessen in Flammen auf. Im Februar 1943 kapitulierten die Deutschen in Stalingrad. Die Engländer hatten im Seekrieg die Oberhand gewonnen, auf geheimnisvolle Weise, die aber durchaus mit der großen Göttinger Leiche zusammenhing, und versenkten nun ein deutsches U-Boot nach dem anderen. In Tunesien rieben sie die letzten italienischen Truppen auf. In


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