Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Georg von Wallwitz
nur sehr selten zum Ereignis wird. Sie werden fast nie unter Fanfarenstößen beerdigt, denn sie waren im Besitz einer Wahrheit, die für die meisten Menschen weder interessant noch zugänglich ist. Physiker, obwohl sie oft mit nichts anderem als Mathematik beschäftigt sind, können die Phantasie anregen durch das Versprechen, den schwarzen Glanz des bestirnten Himmels über uns zu erklären. Mathematiker hingegen sind keine öffentlichen Intellektuellen, sie bedeuten nur ihren eigenen engen Kreisen etwas. Sie sind meist bescheiden und zurückhaltend, ohne dass ihr Selbstbewusstsein darunter leidet. Darin sind sie wie ein idealer Beamter, bei dem Amt und Person sauber voneinander getrennt sind: Der Mensch muss austauschbar sein, sonst dient er nicht der Sache. Mathematiker betrachten ihre geistige Leistung als das Wesentliche und die Person, auch die eigene, spielt nur in Krisenzeiten eine Rolle. Das Werk des Mathematikers muss für sich selbst bestehen können, unabhängig von den historischen Umständen seiner Entstehung. Die Person ist, wie bei einem guten Kunstwerk, zweitrangig. Einstein etwa wusste das und obwohl er ein sehr öffentlicher Mensch war, der Aufmerksamkeit zu erregen und zu nutzen verstand, empfand er seine eigene Beerdigung als eine überflüssige Ablenkung und verfügte, die Asche in einem Wald zu verstreuen und ganz ohne Erinnerungsort zu bleiben. Auch David Hilbert wird, davon können wir ausgehen, das Format seiner Beerdigung herzlich egal gewesen sein. Wie es einer grauen Eminenz gebührte, verschwand er still, unbemerkt, geleitet von einem grauen Zug, in dem die Abwesenden die Wichtigsten waren. Staub zu Staub.
Gib auf das Geschwätz acht, wodurch wir jemand von der Wahrheit eines mathematischen Satzes überzeugen. Es gibt einen Aufschluss über die Funktion dieser Überzeugung. Ich meine das Geschwätz, womit die Intuition geweckt wird.
Ludwig Wittgenstein5
3. Zwei Vögel, ein Frosch und der Erzengel des Fortschritts
Königsberg, wo Hilbert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufwuchs, war ein wohlgeordneter, stolzer und offener Ort, Ostpreußens Hafen zur Welt und Krönungsstadt der zu dieser Zeit modernsten Nation in Europa. Gleichwohl lagen die besten Tage dieser Stadt schon eine Weile zurück. Der Hafen und die Börse waren zwar groß und bedeutend, Königsberg konnte sich rühmen, der weltgrößte Umschlagplatz für Erbsen zu sein und Deutschlands größter Hafen für Getreide und Holz.6 Aber diese Güter hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Stellung verloren. Häfen der Zukunft waren Liverpool und New York, wo die Erbse eine untergeordnete Rolle spielte. Stahl, Kleidung und Maschinen wurden anderswo produziert, Ostpreußen konnte dieser Entwicklung nur zusehen. Das Hinterland von Königsberg war sozial, wirtschaftlich und kulturell zurückgefallen, dominiert von sittenstrengen landbesitzenden Familien, welche die neuen Techniken und die kapitalistische Wirtschaftsweise wie eine bedrohliche Schlechtwetterfront im Westen Deutschlands aufsteigen sahen. So war die Stadt im 19. Jahrhundert bedeutend geblieben, aber in einem Landstrich am Rande des Reichs, der kontinuierlich an wirtschaftlichem und kulturellem Gewicht verlor. Die Festungsanlagen, die gemauerten wie die geistigen, waren groß (was der Nähe zu Russland und dem Stolz der Könige geschuldet war), aber ungepflegt.
Auswärtige Besucher spürten schnell die relative Stagnation. Königsberg (wie auch seine Universität, Albertina genannt) zehrte von den Legenden um Kant, war in seiner Liberalität und Pünktlichkeit realer Ausdruck der Gedankenwelt ihres größten Sohnes geworden, eine »Stadt der reinen Vernunft und der schmutzigen Straßen«.7 Insgesamt waren die Königsberger Professoren gut, aber meistens wären sie lieber in Berlin oder noch weiter weg gewesen, am Puls einer sich im Westen immer schneller verändernden Welt. Die Albertina war die viertkleinste von Preußens zwanzig Universitäten und zählte bis in die 1870er Jahre nur etwas mehr als 300 Studenten. In der Figur und im Werk Immanuel Kants besaß sie ein großartiges Erbe, einen über sämtlichen Fächern schwebenden Geist, auf den man sich in jedem Vortrag berufen musste. Aber drei Generationen nach dem Tod des Philosophen wirkte dieser permanente Bezug auf den immer selben geistigen Fixpunkt nicht mehr besonders originell.
Der Zustand des mathematischen Seminars passte in diese vernachlässigte Forschungslandschaft. Es hatte keine eigenen Räumlichkeiten und war im Karzer untergebracht, der universitätseigenen Ausnüchterungszelle. Die Bibliothek bestand im Wesentlichen aus den Bänden der Mathematischen Annalen. Es gab keine großen Tafeln im Vorlesungssaal, auf denen sich längere Formeln oder Beweise hätten aufschreiben lassen – was zu pointierter Kürze einlud, dem Thema aber nicht immer gerecht wurde. Die Belegung des Vorlesungssaals folgte keinem festen Stundenplan, sondern richtete sich nach der Seniorität des Professors, der dort unterrichten wollte, als wäre es jedenfalls interessant, was alte Männer zu sagen haben. In dieser Situation war es fast unausweichlich, dass die eigentliche Mathematik außerhalb der Universität stattfand, bei gutem Wetter an der frischen Luft und wenn es regnete in Wirtshäusern.
Im Sommer 1884 trafen sich drei junge Männer, der Privatdozent Adolf Hurwitz und zwei Doktoranden, Hermann Minkowski und David Hilbert, beinahe täglich um fünf Uhr nachmittags auf dem Paradeplatz vor dem Hauptgebäude der Albertina, um in der Sonne spazieren zu gehen und dabei das mathematischnaturwissenschaftliche Wissen ihrer Zeit zu durchmessen. Für Hurwitz, den jüngsten und in der Hackordnung niedrigsten Privatdozenten am mathematischen Seminar, war die Belegung eines Hörsaals beinahe unmöglich, und so lag es nahe, sich lauffreudige und trinkfeste Studenten zu suchen, für den Unterricht außerhalb des Universitätsgebäudes. Mehr als zwei fand er zunächst nicht, aber bei einer Revolution der Ideen kommt es ohnehin weniger auf die Zahl der Brandstifter an als auf den Erschöpfungszustand des alten Regimes.
Es waren drei magere Gestalten, die gewaltige Schnauzbärte und eng geschnittene Anzüge aus schweren Stoffen trugen, ganz nach der Mode ihrer Zeit. Sie waren tief in ihr Gespräch versunken, und die Konzentration, mit der ein jeder von ihnen dem anderen zuhörte, um auch nicht eine Nuance des Mitgeteilten zu verpassen, wirkte, als liefen sie unter einer unsichtbaren Käseglocke, die sie von der Welt um sie herum weitgehend isolierte. Ihr Weg führte sie durch den Königsgarten zum Schlossteich, wo die Studentenverbindungen und Rudervereine ihre Quartiere hatten. Der Teich war zu jener Zeit etwas über einen Kilometer lang und erstreckte sich von der Stadtmitte bis zu den nördlichen Befestigungsanlagen. Seit einer Weile war es für die jüngeren Damen möglich und sogar üblich, dort in der Nachmittagssonne zu rudern, und in ihren weißen Blusen und weit ausladenden Hüten mochten sie dem einen oder anderen Flaneur einen unverkennbaren optischen Reiz bieten, aber die drei Spaziergänger waren keine gedankenlosen Müßiggänger und hatten, in der intensivsten und wichtigsten Stunde ihres Tages, keinen Blick dafür. Sie gingen, ohne nach rechts oder links zu blicken, durch den »Börsengarten«, vorbei an der gleichnamigen Gastwirtschaft im Stil eines bayerischen Bierausschanks unter freiem Himmel, der als das größte Alltagsvergnügen in dieser protestantisch-pünktlichen Stadt gelten konnte. Die Promenade um den See war von zahlreichen Parkbänken gesäumt, die eine ideale Gelegenheit boten zum Verweilen, zum Dösen, zum Plaudern. Für die drei kam es aber nicht in Frage, wie selbstzufriedene Besitzbürger auf einer Bank zu sitzen, denn die Schritte waren der Takt und die Erdung ihrer Gedanken, die ununterbrochen fortgesponnen und geprüft werden mussten, damit nicht, als hätte sich plötzlich von der Ostsee her eine herbstliche Nebelwand über die Spaziergänger gesenkt, ihre Richtung und ihr Zusammenhalt verlorengingen. Der Gang, die Bewegung, das Ritual waren wesentlicher Teil des Gesprächs, der körperliche Spiegel ihres geistigen Fortschreitens.
Der Spaziergang führte am Seeufer entlang nach Norden, vorbei an den prominenten Häusern der Freimaurerlogen »Drei Kronen«, »Zum Todtenkopf und Phönix« und »Immanuel«, vorbei am Wilhelms-Gymnasium und der Baptisten-Kirche und vorbei schließlich auch am gewaltigen Dohnaturm, der den Punkt markierte, wo die neueren Festungsanlagen zwischen Schlossteich und Obersee hindurchführten. Hier ließen sie die Altstadt hinter sich und gingen durch die Parkanlagen, die an der Stelle der mittelalterlichen Stadtmauern angelegt worden waren, bis sie endlich an einen Apfelbaum gelangten, das Ziel des täglichen Gangs.8 Dort war es wohl an der Zeit, innezuhalten und erste Ergebnisse ihres Gesprächs zu fixieren, dessen Inhalt nicht eben leicht verdaulich war. Denn mathematische Gegenstände eignen sich am Ende nur bedingt für Wirtshäuser und