Verborgener Ruhm. Dietmar Grieser

Verborgener Ruhm - Dietmar Grieser


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in Einsamkeit zubringen wird: Die Familie, inzwischen durch eine ganze Schar von Enkelkindern kräftig gewachsen, ist, wenn Hilfe gebraucht wird, verläßlich zur Stelle.

      Waren Gertrude auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution alle Habseligkeiten entrissen worden, die die Verbindung zu ihrem Herkunftsland wachhielten, also die alten Familienphotos und Dokumente, die Briefe aus Wien und die kostbare Sammlung deutschsprachiger Bücher, ja war sogar jegliche Unterhaltung in ihrer Muttersprache unter Strafe gestellt worden, so ist es nun, wenige Tage vor Chengrongs Ableben, ein umso aufwühlenderes Erlebnis, zum erstenmal nach Jahrzehnten Besuch aus Österreich zu erhalten: Universitätsprofessor Gerd Kaminski, einer der Pioniere bei der Wiederherstellung der österreichisch-chinesischen Beziehungen, hat vom Schicksal seiner ehemaligen Landsmännin Gertrude Wagner erfahren und eine Reise an deren neuen Lebensort organisiert. Kaminski kommt nicht mit leeren Händen: Obwohl Gertrude nichts ferner liegt, als an eine Rückkehr in ihre Heimat zu denken, läßt es die Dreiundsiebzigjährige nicht ungerührt, aus den ihr auf Betreiben ihres in Wien lebenden Bruders Walter übermittelten Dokumenten zu ersehen, daß ihre österreichische Staatsbürgerschaft nicht erloschen ist, sondern jederzeit wieder von ihr in Anspruch genommen werden kann.

      Nein, China auf Dauer zu verlassen, kommt für sie auch jetzt, wo sie Witwe geworden ist, keinesfalls in Frage: Gertrude Wagners Platz ist und bleibt das kleine Dorf Hucang, wo sie ihren Mann zu Grabe getragen hat. Das einzige, zu dem sie sich überreden läßt, ist, dem Ruf des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk zu folgen, der sie zu einem mehrmonatigen Besuch in der alten Heimat eingeladen hat.

      Von einer ihrer Töchter begleitet, trifft Gertrude Ende Oktober 1990 auf dem Flughafen Schwechat ein, bezieht eine Gästewohnung in der Wiener Innenstadt, trifft sich mit ihren Verwandten, sucht die Adressen ihrer Kindheit und Jugend auf, verweilt am Grab ihrer Eltern. Im Belvedere bestaunt sie die Gemälde der alten Meister, im Musikverein wohnt sie dem Neujahrskonzert der Philharmoniker bei, Ausflüge in den Prater und an den Neusiedlersee regen sie zu Vergleichen mit den Landschaften in ihrer neuen Heimat an. Natürlich wird sie von allen ihren Begleitern mit der Frage bombardiert, ob sie denn nicht Lust hätte, dazubleiben. Gerd Kaminski, der Gertrude Wagners ungewöhnlichem Lebensweg einige Jahre später ein fesselndes Buch widmen wird («Verheiratet mit China«), hält ihre Antwort im Originalton fest: »Nein, ich fahre zurück. Wien ist schön. Und ich danke dem Herrgott, daß ich noch einmal hier sein durfte. Aber meine Heimat ist China. Dort sind meine Kinder und Enkel.«

      Eines freilich kann sie nicht verhindern: Obwohl heimgekehrt in ihr stilles Dorf im Südosten des Riesenreiches China, ist Gertrude Wagner alias Hua Zhiping nun eine Person des öffentlichen Interesses geworden. Bei einem zu ihren Ehren veranstalteten Bankett in der Österreichischen Botschaft, zu dem sie, begleitet von ihren Töchtern Elisabeth und Trude, nach Peking reist, wird sie mit einem Orden der Republik Österreich ausgezeichnet; der ORF und der Staatssender der Provinz Zhejiang drehen mit ihr eine Fernsehdokumentation, die sowohl beim österreichischen als auch beim chinesischen Publikum eine Welle des Mitgefühls auslöst; auch die Presse beider Länder stürzt sich auf das Thema; und um die Berge von Post zu bewältigen, die ihr daraufhin von überallher zugeht, müßte sie sich eigentlich Autogrammkarten drucken lassen. Nur die Uraufführung des Spielfilms »Am anderen Ende der Brücke«, in dem Nina Proll die junge und Susi Nicoletti die alte Gertrude Wagner verkörpert, erlebt sie nicht mehr: Wenige Wochen, bevor die österreichisch-chinesische Coproduktion in die Kinos kommt und Millionen Menschen zu Tränen der Anteilnahme und Bewunderung rühren wird, stirbt die inzwischen Sechsundachtzigjährige an Altersschwäche. Auf dem Friedhof von Hucang wird sie an der Seite des einstigen Wiener Polizeischülers Du Chengrong beigesetzt, dem sie vor siebzig Jahren auf die Beine geholfen hat, als er beim Eislaufen am Heumarkt das Gleichgewicht verlor …

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