Die Enkel der Tante Jolesch. Georg Markus
– seines Zeichens Direktor eines großen Wiener Versicherungsinstituts – gewesen sein. Sein Urenkel Lucian O. Meysels erzählte mir, dass es zu Herrn Tintners strikt einzuhaltendem Lebensplan gehörte, einmal im Monat – was immer da kommen mochte – zu den Zusammenkünften seiner Freimaurerloge nach Preßburg zu fahren. Anders als zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia – deren Mann Franz Stephan selbst einer Loge angehört hatte – war der Geheimbund in der Ära Kaiser Franz Josephs in der österreichischen Reichshälfte verboten, weshalb Wiens Freimaurer in die nächstgelegene Loge auswichen. Und die befand sich im damals ungarischen Preßburg, wohin Urgroßvater Tintner regelmäßig reiste, um an den obligaten Treffen der dortigen Vereinigung teilzunehmen. Vierzig Jahre lang, bis an sein Lebensende, nahm Herr Tintner Monat für Monat, mit eiserner Disziplin, die beschwerliche Fahrt nach Preßburg auf sich. Nichts, weder Krankheit noch Unwetter, konnte ihn davon abhalten.
Als er 1924 starb, schickte seine Witwe sämtlichen Mitgliedern der Preßburger Loge eine Parte, damit diese sich, möglichst vollzählig, beim Begräbnis ihres Mannes einfinden mögen.
Sie war dann sehr enttäuscht, dass kein einziger von ihnen nach Wien kam, zumal sie wusste, dass die Teilnahme an der Beisetzung eines Logenbruders zu den obersten Ehrenpflichten der Freimaurer gehört. Frau Tintner war dermaßen vergrämt, dass sie nach der Trauerfeier in Preßburg anrief, um nachzufragen, warum denn keiner gekommen sei, wo ihr Mann doch vierzig Jahre lang in vierwöchigem Rhythmus Frau und Kinder im Stich gelassen hatte, um seine Freunde in der Loge aufzusuchen.
Da teilte man der staunenden Witwe mit, dass ihr Mann niemals Mitglied der Preßburger Loge gewesen sei.
Wohin er vierzig Jahre lang einmal im Monat gefahren ist – das wird wohl für alle Zeiten ein Rätsel bleiben.
Zu Preßburg kommt mir ein Aperçu des großen Karl Farkas in den Sinn, dem wir in diesem Buch noch öfter begegnen werden.
Niemand sonst konnte wie er ein ihm zugerufenes Stichwort zu einer brillant gesetzten Pointe führen. Diese hier, scheinbar auf Preßburg bezogen, ging in Wahrheit weit über die Bedeutung des Städtchens am linken Donauufer hinaus. Schildert sie doch in wenigen Worten die politischen Irrwege eines ganzen Jahrhunderts:
»Ich hab einen Onkel gehabt«, sagte Farkas, »der ist in Österreich geboren, hat in Ungarn studiert, in der Tschechoslowakei gearbeitet und ist in Deutschland gestorben. Dabei ist er sein Leben lang nie aus Preßburg herausgekommen.«*
Zurück aber zu meiner Tante Flora, die ihre Tante-Jolesch-Qualitäten nicht nur von ihren Ahnen ererbt, sondern offensichtlich auch an ihre Nachfahren weiter gegeben hat – unter anderem an ihre Tochter Lise, die mit dem seinerzeit bekannten Maler Frederic Schiff verheiratet war. Lise zeigte mir einmal das Aquarell einer wunderschönen, spärlich bekleideten Frau, das ihr Mann in den fünfziger Jahren angefertigt hatte und erzählte mir die dazugehörende Geschichte:
Fred hatte den Akt in seinem Wiener Atelier gemalt und war nach Fertigstellung des Bildes mit dem Mädchen in ein Kaffeehaus gegangen. Lise tobte, als sie davon erfuhr, und machte ihrem Mann eine schreckliche Eifersuchtsszene.
»Aber, Liebling«, rechtfertigte er sich, »warum sollte ich nicht mit einer jungen Frau Kaffee trinken, die ich vorher zwei Stunden lang nackt gemalt habe?«
»Das ist etwas anderes«, schrie Lise mit Tränen erstickter Stimme. »Beim Kaffee war sie ja schon angezogen.«
Die Familienanekdote erinnert mich, wie manch andere, die das Leben schreibt, an einen Witz: Ein Maler küsst im Atelier sein junges, schönes Modell und hört plötzlich, wie der Schlüssel in der Eingangstür umgedreht wird. Da ruft er dem Mädchen zu:
»Schnell ausziehen! Meine Frau kommt.«
* Die Übersetzung aus dem Tschechischen lautet: »Eintritt: 50 Kronen«, die Übersetzung aus dem Englischen: »Eintritt: 100 Kronen«.
* Hätte der Onkel länger gelebt, wäre er auch noch Bürger der ČSSR und – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – der Republik Slowakei geworden.
»DES TEUFERLS GENERAL«
Torberg, Weigel & Co
Friedrich Torberg hält sich in seinen Erinnerungen an die Tante Jolesch – die in Wahrheit auch seine eigenen sind – bescheiden im Hintergrund. Obwohl wir wissen, dass er im Umgang mit Freunden und Mitarbeitern überaus originell sein konnte. Lassen wir hier also Torberg durch seine eigene Schlagfertigkeit zu Wort kommen, in der er den von ihm zahlreich zitierten Kaffeehausliteraten um nichts nachstand. Der Karikaturist Rudolf Angerer erzählte mir von einer Autofahrt, die er einmal mit Torberg unternommen hatte. Als irgendwo in Währing, am Stadtrand von Wien, die Ampel »Rot« zeigte, mussten sie mit ihrem Wagen gezwungenermaßen stehen bleiben. Da schaute Torberg zum Fenster hinaus und entdeckte das Portal einer Süßwarenhandlung mit der Aufschrift »Zuckerl-Mayer«.
Worauf er trocken sagte: »Das ist der, der ›Des Teuferls General‹ geschrieben hat!«
Der solcherart minimierte Carl Zuckmayer zählte ebenso zu Torbergs Freundeskreis wie Thomas Mann, Fritz von Herzmanovsky-Orlando und Franz Werfel, denen er sich aufgrund des Erfolgs seines Erstlingswerks »Der Schüler Gerber hat absolviert« schon im Alter von 21 Jahren zugehörig fühlen durfte. Weit weniger Aufsehen erregte sein zweiter Roman »Die Mannschaft«, der – wie Torberg selbst bekannte – »für die Sportler zu g’scheit und für die G’scheiten zu sportlich« war.
Auch wenn seine Liebe zum Sport für viele im Gegensatz zum intellektuellen Anspruch des Dichters stand, blieb der athletisch gebaute Torberg lange als Schwimmer und Wasserballer (der in seinen Jugendtagen für die »Hakoah« einen Meistertitel errang) aktiv. Seine fanatische Hingabe zum Fußballklub »Austria« spiegelt sich in einer skurrilen Episode im Exil wider: Als Fritz Molden 1947 nach New York kam, um dort im Auftrag der österreichischen Regierung die Zeitschrift »Austria Information« zu gründen, konnte sich Torberg des Eindrucks nicht erwehren, Molden würde seine Position dafür missbrauchen, die aus Wien eintreffenden Sportnachrichten in übler Weise zu manipulieren. Knappe Siege der von Molden bevorzugten »Vienna« seien in dem Blättchen aufgebauscht und deren Niederlagen vertuscht worden, wohingegen die Erfolge der von Torberg favorisierten »Austria« angeblich sträflich vernachlässigt wurden. In der »Austria Information«-Redaktion langten zahllose Leserbriefe eines James B. McNussenblatt ein, der sich als ausgezeichneter Kenner der österreichischen Fußballszene erwies. McNussenblatt ging so weit, die in der Zeitschrift wiedergegebene Tabelle der Fußballergebnisse als glatte Fälschung und Molden als »Agent eines primär zur Vernichtung der ›Austria‹ geschaffenen Geheimdienstes« zu bezeichnen.
Nach intensiven Recherchen gelang es Fritz Molden, James B. McNussenblatt als Friedrich Torberg zu entlarven.
Man stelle sich vor, wie groß die Liebe des aus der Heimat Vertriebenen zu Österreich gewesen sein muss, wenn ihm nach fast zehnjährigem Aufenthalt in der Fremde die Reputation des Fußballklubs »Austria« derartige Sorgen bereiten konnte. Darüber hinaus wurde das New Yorker Penthouse des Ehepaares Friedrich und Marietta Torberg in der 55. Straße, Ecke 7. Avenue, von Besuchern als bewohnbar gemachte Kopie des einstigen Café Herrenhof beschrieben.
Torberg kehrte ein Jahr nach der McNussenblatt-Episode zurück nach Wien, um hier wieder als Kritiker zu arbeiten und die von ihm gegründete Kulturzeitschrift »Forum« herauszugeben. In Wien wurde, als Torberg bereits etabliert war, oft die Frage gestellt, ob der zum Romancier Berufene sein Genie vergeudet hätte, weil er im Journalismus verblieben war.
»Nein«, antwortete Hans Weigel, »er hat zwar gewiss darunter gelitten, dass er vor lauter ›Forum‹ kaum zu anderer Arbeit kam, aber er hat es gleichzeitig genossen, dass er darunter gelitten hat.«
In der Tat blieb für seine schriftstellerische Tätigkeit wenig Zeit. Einzig sein Roman »Süßkind von Trimberg«,