Die Enkel der Tante Jolesch. Georg Markus
Lebens »mit Entsetzen vermerkte, dass es sehr viele Leute gibt, die mich überhaupt nur als Kishon-Übersetzer kennen«, widerlegte Kishon dies mit der Feststellung, »dass Torberg gar nicht das übersetzt, was ich geschrieben habe, sondern das, was er übersetzen möchte«.
Friedrich Torberg, der einstige Kaffeehausliterat, hatte sich mittlerweile in sein Landhaus in Breitenfurt bei Wien zurückgezogen, wo er täglich bei exzessivem Kaffee- und Zigarettenkonsum bis in die frühen Morgenstunden hinein schrieb und erst nach Mittag wieder aufstand. Er könnte seine Freunde »am Daumen einer Hand abzählen«, erklärte Torberg die Abgeschiedenheit seiner späten Jahre.
Sollte er zeitweise wirklich einsam gewesen sein, dann dürfte wohl der von ihm inszenierte »Brecht-Boykott« einiges dazu beigetragen haben. Als der Schriftsteller und Parodist Robert Neumann in jenen Tagen vermutete, »dass Torberg zu jedem Frühstück einen Kommunisten verspeist«, entgegnete Marcel Reich-Ranicki:
»Das stimmt natürlich nicht. Denn erstens ist Torberg Vegetarier und zweitens Feinschmecker.«
Torbergs treuester Mitstreiter in der Ablehnung gegenüber Bert Brecht war Hans Weigel. So einig sich die beiden Kritiker in Sachen Brecht auch waren, so konträr dachten sie in anderen Fragen – ganz besonders in einer: Während man Weigel wiederholt seine Einstellung zum Judentum und die Bagatellisierung eines möglicherweise wieder aufkommenden Antisemitismus vorwarf, schrieb Torberg unermüdlich gegen das Vergessen in der Geschichte an. Und fand über seinen Widersacher die Worte:
»Der Weigel ist der einzige Mensch in Österreich, der glaubt, dass der Weigel kein Jud ist!«
Hans Weigel war zeitweise nicht nur auf Torberg, sondern – nebst anderen – auch auf Marcel Prawy schlecht zu sprechen. Das muss man wissen, um die folgende Geschichte, die sich in den fünfziger Jahren im Café Volksoper zugetragen hat, verstehen zu können.
Als Weigel dort eines Abends neben der Schauspielerin Louise Martini saß, betrat ein stattlicher, gut aussehender Herr das Lokal und grüßte sehr höflich – zuerst Louise Martini und dann Hans Weigel. Worauf die beiden den Gruß ebenso höflich erwiderten.
Kaum war der stattliche Herr außer Sichtweite, fragte Weigel – der extrem kurzsichtig war und daher oft gleichzeitig mehrere Brillen auf Stirn und Nase platziert hatte –, Weigel also fragte seine Tischnachbarin, wer der Herr gewesen sei, den sie gerade gegrüßt hätten.
»Das war der Prawy«, antwortete Louise Martini.
Nach Erhalt dieser Auskunft begann Weigel aufgeregt in seiner Aktentasche irgendwelche Papiere zu suchen. Als er sie endlich gefunden hatte, sprang er auf und lief Prawy nach. Sobald er ihn eingeholt hatte, hielt er diesem die mitgebrachten Unterlagen vors Gesicht und sagte:
»Das sind ärztliche Atteste, die bescheinigen, dass ich schlecht sehe. Nur so konnte es passieren, Herr Doktor Prawy, dass ich Sie gegrüßt habe.«
Sprach’s und ging – diesmal selbstverständlich grußlos – zurück an seinen Tisch.
Wo bitte sehr, trifft man fünfzig Jahre später einen Herrn, der einer solchen Aktion fähig wäre?
Zwei Begebenheiten noch, die typisch für Weigels Humor sind. In der Zeit, als Hans Dichand Chefredakteur des »Kurier« war, schrieben dort gleichzeitig Weigel, Torberg und Heimito von Doderer. Weigel ging des Öfteren mit Dichand und der Kulturredakteurin Hedi Schulz zum Mittagessen. Als er einmal, in einem Lokal am Stadtrand von Wien, Kaiserschmarrn bestellte, wunderte sich Dichand:
»Herr Weigel, Sie essen Kaiserschmarrn? Es weiß doch jeder, dass Sie gegen die Monarchie sind!«
»Schmarrn in Verbindung mit Kaiser«, replizierte Weigel, »das geht!«
Und als der durch seine Fernsehserien populär gewordene Schauspieler und Regisseur Fritz Eckhardt mit dem Ehrentitel »Professor« ausgezeichnet wurde, telegrafierte ihm Weigel:
»Hiermit lege ich meinen Professorentitel zurück. Albert Einstein.«
Zu Weigel fällt mir aber auch eine Begebenheit ein, die ich aus nächster Nähe miterlebte. Im Gegensatz zu Torberg – den ich nur einige wenige Male getroffen hatte – kannte ich Weigel sehr gut, fast könnte ich sagen, mit ihm befreundet gewesen zu sein. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich einige Jahre nach seinem Tod von einem Grazer Verlag eingeladen wurde, einen Beitrag über den Doyen der Wiener Theaterkritik zu schreiben.
Ich war einer von mehreren Autoren, die sich in dem geplanten Buch an Weigel erinnern sollten. Zu ihnen zählten neben seiner Lebenspartnerin Elfriede Ott auch die Schauspieler Otto Schenk und Helmuth Lohner, die Kabarettisten Gerhard Bronner, Georg Kreisler und Werner Schneyder, die Journalisten und Autoren Hans Dichand, Trude Marzik und Marcel Reich-Ranicki. Aber auch die Politiker Rudolf Kirchschläger, Franz Vranitzky, Peter Marboe, Helmut Zilk.
Und Franz Olah.
Bei der Präsentation des Weigel-Erinnerungsbandes im Wiener Rabenhof-Theater blätterte ich in dem druckfrischen Werk und blieb bei dem ein wenig eigentümlich anmutenden Beitrag »Irritationen des Lebens«, verfasst von Franz Olah, hängen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren war der ehemalige Innenminister und Gewerkschaftspräsident jedoch nicht anwesend.
Hatte er überhaupt einen Beitrag für dieses Buch geschrieben?
Und wenn nicht: Wer war dann der geheimnisvolle Autor des Kapitels, über dem »Franz Olah« stand?
Nun, im burgenländischen Markt Deutschkreutz lebt ein Bundesbahnbeamter gleichen Namens, der auf äußerst sonderbare Weise zum Weigel-Chronisten wurde: Franz Olah, 35 Jahre alt und am Kartenschalter des Bahnhofs Wr. Neustadt tätig, erhielt ein Jahr vor Erscheinen des Buches – wie wir alle, die sich an Weigel erinnern sollten – einen Brief des steirischen Verlagshauses, mit der Bitte, einen Beitrag zum 90. Geburtstag des verstorbenen Literaturpapstes zu schreiben.
»Ich hab mich eh sehr g’wundert«, sagte Olah, der Bahnbeamte, als ich ihn nach der Präsentation des Buches ausfindig machte. »Ich hab mich g’wundert, weil ich den Weigel weder gekannt noch je etwas von ihm gelesen habe.«
Daher nahm der biedere Beamte das Verlagsschreiben zunächst nicht weiter ernst und legte es beiseite.
Bis nach einigen Monaten ein weiterer Brief kam, diesmal mit der dringlichen Anfrage, wann endlich mit dem Manuskript zu rechnen wäre.
Worauf er an der Sache Geschmack zu finden begann. Wer hat schon Gelegenheit, seinen Namen nebst so illustren Persönlichkeiten in einem Buch wiederzufinden? Also las Herr Olah (der mit dem Politiker weder verwandt noch verschwägert ist) in Weigels Werken nach. Und verfasste ein Kapitel, das er dem Verlag schickte und das dann auch tatsächlich so erschienen ist.
Im Verlag suchte man, als ich die Verwechslung in einem Zeitungsartikel »aufgedeckt« hatte, eine Erklärung für die ein wenig peinliche Angelegenheit.
Die da lautete: Eine Mitarbeiterin war beauftragt worden, Franz Olahs Adresse herauszufinden. Als man ihr bei der Telefonauskunft die Adresse des Herrn in Deutschkreutz nannte, begann die Posse ihren Lauf zu nehmen.
Immerhin kommt »der falsche Olah« auf zwei Buchseiten zu dem Schluss: »Nehmen wir den 90. Geburtstag Hans Weigels zum Anlass, darauf hinzuweisen, welche Werte in den Werken der österreichischen Dichtung und vor allem in den Werken Hans Weigels liegen.«
Tatsächlich. Welche Werte liegen dort. Der Nestroy, der Qualtinger und der Weigel selbst sind wohl am Tag der Buchpräsentation auf einer Wolke gesessen und haben sich gefreut, dass in Österreich alles so geblieben ist, wie sie’s immer so trefflich beschrieben hatten.
Hans Weigels »Watschenaffäre« wurde zwar vielfach beschrieben, wir wollen ihr aber hier noch die eine oder andere der Tante Jolesch adäquate Facette anfügen. Die Schauspielerin Käthe Dorsch hatte dem Kritiker 1956 bekanntlich – nachdem er sie für damalige Weigel-Verhältnisse ohnehin eher sanft verrissen hatte – auf offener Straße eine schallende Ohrfeige verpasst. Worauf Weigel sie klagte. Der Ausrutscher hätte gar nicht so viel Aufsehen