Wasserschloss zu vererben. Usch Hollmann

Wasserschloss zu vererben - Usch Hollmann


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wenigstens für ein Jahr zu entkommen – bevor ich in den nächsten goldenen Käfig gesperrt werde. Am liebsten würde ich gleich morgen in den Flieger in die USA steigen.“ Sie ergreift einen Zipfel des Tischtuches und wischt sich mit ungeduldiger Geste ein paar Tränen aus dem Gesicht.

      „Und sie bringen mich immer wieder zum Heulen, auch wenn ich gar nicht heulen will. Das muss auch mal aufhören.“

      Die Haushälterin hat begonnen, das benutzte Geschirr aufeinanderzustapeln. Doch ehe sie damit in die Küche geht, stellt sie es noch einmal ab und nimmt Claudia in den Arm.

      „Laudi, mein kleines Mädchen.“ Unversehens sind beide in die Anrede aus Claudias Kindertagen verfallen: Dahma und Laudi. Sie streicht der weinenden Prinzessin liebevoll übers Haar.

      „Vielleicht solltest du versuchen, einen etwas weniger rebellischen Tonfall anzuschlagen, wenn du mit deinen Eltern sprichst. Dein Vater ist in der Tat schwer herzkrank und deine Mutter hat es nicht gerade einfach mit ihm. Was ihre zeitweiligen Anfälle von Depressionen betrifft, so finde ich, dass sie sich dennoch sehr tapfer hält.“

      Das „kleine Mädchen“ schlägt die Hände vors Gesicht.

      „Jajaja, und deshalb brauchen sie unentwegt Schonung und Nachsicht und müssen wie rohe Eier behandelt werden … Dahma, ich brauche auch manchmal Schonung und Rücksichtnahme, aber daran denkt niemand, und ich …“

      Claudia beginnt hemmungslos zu schluchzen.

      „Ich kann hier doch nicht ein ganzes Jahr untätig herumsitzen oder womöglich Monogramme in die Aussteuerwäsche sticken, bis Michael sein zweites Staatsexamen gemacht hat. Denn ehe er das nicht in der Tasche hat, denkt er nicht ans Heiraten. Und überhaupt – ich versteh ihn manchmal nicht – er ist so ehrgeizig, hat nur sein Studium und seinen zukünftigen Beruf im Kopf, träumt von einer glanzvollen Anwaltskarriere, von interessanten Fällen und …“

      Agnes Dahlmann unterbricht sie.

      „Kind, sei nicht ungerecht. In der heutigen Zeit ehrgeizig zu sein, ist kein Fehler, sondern ein Muss. Auch ihm als Adeligem fällt nichts in den Schoß, das weißt du selbst. Und – ich dachte immer, du liebst ihn?“

      „Ach, Dahma – Liebe, das ist ein großes Wort. Ja, er ist nett, er ist anständig, er sieht gut aus, die Lauensteins sind reich, er ist ganz bestimmt das, was man eine gute Partie nennt. Alle Mütter mit Töchtern im heiratsfähigen Alter wünschen sich einen solchen Schwiegersohn – und ich mag ihn ja auch, aber …“ Sie stockt.

      „Was, aber?“

      „Ich verzehre mich nicht nach ihm, ich bekomme keine ‚Schmetterlinge im Bauch‘ in seiner Nähe – Mama sagt, das käme erst in der Ehe, aber ob Mama das jemals erlebt hat, das mit den Schmetterlingen im Bauch? Ob die Verbindung mit Papa nicht womöglich auch eine Ehe aus Standesgründen war? Dahma, warst du eigentlich mal verliebt?“

      Die so Angesprochene streicht nachdenklich die Tischdecke glatt.

      „Ja, war ich – und wie!“

      „Oh, erzähl mal – wer war das, wie hieß er? Und warum hast du ihn nicht geheiratet?“

      Claudia wischt mit dem Handrücken die letzten Tränen ab und sieht ihre „Dahma“ erwartungsvoll an.

      „Er hieß Richard und war der Sohn eines Professors – und ich war die Tochter eines Tischlermeisters. Solche Standesunterschiede waren in meiner Jugend nicht zu überbrücken. Das hat sich bis zum heutigen Tage doch etwas gelockert, aber …“

      „Das denkst du“, unterbricht Claudia. „Schön wär’s. In normalen, also in bürgerlichen Gesellschaftsschichten, hat es sich vielleicht etwas gelockert, aber in ‚unseren Kreisen‘, wie meine Mutter zu sagen beliebt, gibt es noch haufenweise Ewiggestrige, die der Ansicht sind, kostbares blaues und ordinäres rotes Blut dürfe man nicht mischen. ‚Lila Blut tut niemand gut‘, das ist doch einer ihrer Standardsätze.“

      Nach einer Pause fährt sie resigniert fort:

      „Deswegen sind meine Eltern auch so versessen darauf, dass ihre einzige Tochter einen Blaublütigen heiratet. Und Papa will endlich einen Sohn haben. Er hat es mich oft genug deutlich spüren lassen, wie sehr er es bedauert, dass ich nur ein Mädchen geworden bin. Ach, Dahma, du durftest nicht nach deinem Herzen heiraten, aber ich darf auch nicht frei entscheiden. Standesunterschiede und Standesdünkel gibt es auch heute noch, sonst müsste ich doch nicht diesen guten, lieben, ehrgeizigen und langweiligen Michael zu Lauenstein heiraten. Vater fiele tot vom Stuhl, wenn ich ihm eines Tages einen Bürgerlichen als künftigen Schwiegersohn präsentieren würde. Und Mutter würde mich enterben – sie hat ja bei uns das ganze Geld und die Ländereien, auf die Onkel Edwin, Mutters blöder Bruder, so erpicht ist. Das ist ja auch einer der Gründe, weswegen ich Michael heiraten soll: Dass unser Geld mit dem der Lauensteins verschmilzt, dass Michael und ich viele Kinder bekommen und dass Onkel Edwin, dieser Nichtsnutz mit seinen riskanten Finanzgeschäften, in die Röhre kuckt. Aber erzähl mir weiter von deinem Richard, in den du verliebt warst – war auch er in dich verliebt?“

      „Nein, nein, und er war auch nie mein Richard, denn er hat ja gar nicht wissen können, wie es in mir aussah. Wir haben nur ein einziges Mal eher zufällig zusammen getanzt und danach hat er mich geküsst, aber mehr so bussibussi-mäßig. Und seitdem habe ich mich nach ihm ‚verzehrt‘, wie du es nennst, monatelang, und ich hatte die von dir erwähnten ‚Schmetterlinge im Bauch‘, wenn ich ihn nur von Weitem gesehen habe.“

      „Arme Dahma, aber hättest du keinen anderen heiraten können? Du warst doch sicher hübsch früher. Bist es ja heute noch … du könntest noch heute einen Mann finden.“

      „Ach, Kind, mit 45 Jahren denkt man nicht mehr unbedingt ans Heiraten. Nein, ‚verzehrt‘ habe ich mich nur nach Richard, dem Unerreichbaren. Und dann stand ja eines Tages diese Anzeige in der Zeitung, dass auf Schloss Wallburg die junge Fürstin Henriette eine zuverlässige Kinderfrau für die Betreuung der neugeborenen Prinzessin Claudia braucht – und weil ich ohne ‚Schmetterlinge im Bauch‘ niemanden heiraten wollte, bin ich ledig geblieben und eure Dahlmann und deine Dahma geworden – und das habe ich nie bereut. Besonders nicht deinetwegen, denn dadurch, dass deine Mutter andere Aufgaben übernehmen musste, bist du meine Laudi geworden. Du konntest lange keinen K-Laut sprechen. ‚Dahma, Dahma, Laudi Arm!‘ Das war immer so süß, wenn du nach mir gerufen hast.“

      „Das möchte ich noch heute manchmal rufen“, murmelt Claudia und drängt sich in die Arme der Haushälterin.

      „Du hast diesen Richard also nicht einmal geküsst … willst du damit sagen, dass du nie … also du hast nie … Dahma, bist du womöglich noch – Jungfrau?“

      „Aber Claudia, so etwas fragt man doch nicht … so etwas würde ich dich bei all unserer Vertrautheit nie fragen.“

      Agnes Dahlmann ist rot geworden. Sie schiebt Claudias von sich und streicht wieder mit fahrigen Händen über die längst tadellos geglättete Tischdecke.

      „Aber du dürftest mich so etwas ruhig fragen“, wendet Claudia lebhaft ein, „Denn du kennst mich, seitdem ich lebe, also immerhin seit fast 19 Jahren. Du kennst mich besser, als meine eigene Mutter mich kennt – ich habe ‚Dahma‘ gebrabbelt, noch bevor ich „Mama“ sagen konnte, und deshalb verrate ich es dir ungefragt: Ich bin keine Jungfrau mehr. Setz dich hin, bevor du vor Schreck umfällst.“

      Dahlmann lässt sich sichtlich erschüttert auf den nächsten Stuhl fallen. „Aber Claudia, ich …“

      „Dahma, ich war die letzte Jungfrau in unserer Abiturklasse, alle konnten irgendwann von ihren erotischen Ersterfahrungen berichten, nur ich nicht – das war ja schon fast peinlich.“

      „So etwas erzählt ihr euch gegenseitig? In meiner Jugend … Laudi, du machst mich sprachlos.“

      „Ach, Dahma.“ Claudia verfällt immer wieder in den Kosenamen aus längst vergangenen Kindertagen.

      „Diesbezüglich stand ich nicht wirklich unter dem Druck meiner Klassenkameradinnen – ich hätte


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