Tru & Nelle. G. Neri

Tru & Nelle - G. Neri


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hinter ihm ihre Aufmerksamkeit erregte. Sook wedelte Rauch durchs Küchenfenster hinaus. Erst kniff Nelle die Augen in Sooks Richtung zusammen, dann sah sie wieder ihn an. «Sag mal, Miss Sook ist nicht deine Mama – dafür ist sie viel zu alt. Und ich weiß, dass ihr Bruder Bud auch nicht dein Pa ist. Wo stecken eigentlich deine Eltern?»

      Truman blickte zum Haus zurück. «Sie ist meine Großcousine mütterlicherseits», sagte er. «Genau wie Bud und Jenny und Callie.»

      «Ich hab mir schon immer gedacht, wie seltsam das ist, dass keiner von ihnen je geheiratet hat oder so», sagte Nelle und beobachtete Sook wieder. «Und jetzt wohnen sie immer noch alle zusammen, genau wie damals, als sie noch Kinder waren – obwohl sie so alt sind wie meine Granny.»

      «Das liegt an Großcousine Jenny. Sie ist die Chefin von uns allen. Führt den Hutladen und den Haushalt gleichzeitig – und sie sorgt dafür, dass wir alle in der Familie bleiben.»

      «Na schön, aber warum wohnst du hier?», fragte Nelle.

      «Ich bleibe nicht lange hier. Mein Daddy ist weg, um sein Glück zu machen. Er ist ein … Entre-pre-nöör, wie er das nennt. Ich arbeitete mit ihm auf den Dampfern, die den Mississippi rauf und runter schippern, aber dann hat der Kapitän gesagt, ich muss gehen. Deshalb passen jetzt Sook und die anderen auf mich auf.»

      «Warum haben die dich denn von einem Dampfer geschmissen?»

      «Weil …» Er überlegte genau. «Weil ich zu viel Geld verdient habe», sagte er schließlich und zupfte an seinem übergroßen Kragen. «Weißt du, mein Daddy hat mich zur Unterhaltung mit an Bord genommen. Ich habe immer Stepptanz gemacht, wenn dieser farbige Typ, Satchmo Armstrong, Trompete spielte. Dann warfen die Leute mir so viel Geld zu, dass der Kapitän wütend wurde und gesagt hat, ich muss weg!»

      Nelle wirkte skeptisch. «Du lügst. Oder zeig mal, wie du tanzen kannst.»

      Truman blickte auf die weiche Erde, in der er stand. «Das kann ich hier nicht. Man braucht einen Holzboden zum Steppen. Außerdem habe ich meine Tanzschuhe nicht an.»

      Nelle betrachtete seine Kleider. «Wer hat dich überhaupt diese komischen Klamotten gesteckt?», fragte sie.

      «Die hat meine Mama in New Orleans gekauft. Von da kommen wir.»

      Kein Junge, den sie kannte, trug je so etwas. «Na ja, da unten in New Or-liiiiins ziehen die Leute sich echt komisch an. Ist deine Mama jetzt dort?», fragte sie.

      Truman schaute auf seine Schuhe. «Vielleicht.»

      «Vielleicht? Ja, zum Kuckuck, warum bist du denn nicht bei ihr?», fragte sie.

      Truman zuckte mit den Achseln. Darüber wollte er nicht reden.

      «Wie du willst», meinte Nelle. «Sag mal, wie heißt du überhaupt?»

      «Truman. Und du?»

      «Ich bin Nelle. Nelle ist Ellen von hinten buchstabiert. So heißt meine Granny. Hast du auch einen Mittelnamen?»

      Truman wurde rot. «Vielleicht. Und du?»

      «Harper. Und du?»

      Truman wurde noch ein bisschen röter. «Äh … Streckfus», sagte er sehr verlegen.

      Nelle sah ihn verblüfft an, also erklärte Truman: «Mein Daddy hat mich nach der Firma benannt, für die er gearbeitet hat – die Streckfus Dampfschiff Company.»

      Nelle verbiss sich ein Lachen. «Also, war das mit dem Boot wohl doch kein Scherz.» Sie wollte noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anscheinend anders. «Okay, dann. Man sieht sich.»

      Sie sprang auf ihrer Seite von der Mauer.

      «Hey! Was ist mit meinem Buch?», rief er ihr nach.

      Doch sie rannte schon auf ihr Haus zu. «Kriegst du zurück, wenn ich damit durch bin, Streckfus!»

      Nachdem er selbst ins Haus zurückgekehrt war, erzählte Truman der alten Sook von seiner seltsamen Begegnung mit Nelle. Die schüttelte nur den Kopf. «Armes Kind. Ihr Daddy arbeitet die ganze Zeit und ihre Mama … na ja, die ist ein bisschen krank im Kopf.»

      «Wie meinst du das?», fragte er.

      Sook blickte zu Nelles Haus hinüber und fuhr sich mit den Händen durch ihr immer dünner werdendes graues Haar. Sie war klein und zierlich, aber voller Leben – und in ihren Ansichten unerschütterlich. «Ihre Mama benimmt sich manchmal wirklich eigenartig – läuft durch die Straßen und erzählt Leuten die seltsamsten Dinge. In manchen Nächten spielt sie um zwei Uhr morgens auf der Veranda Klavier und weckt die ganze Nachbarschaft auf. Manche sagen, sie macht das, um die Stimmen in ihrem Kopf zu übertönen.»

      «Kann sie nicht etwas von deiner entwässernden Medizin dagegen nehmen?», fragte Truman.

      Sook schüttelte den Kopf. «Manche Dinge lassen sich nicht heilen – nicht mal von meinem Spezial-Zauber-trank.» Sie beugte sich hinunter und flüsterte ihm zu: «Manchmal vergisst ihre Mama, Abendessen zu kochen, dann kriegen der arme Mr. Lee und seine Kinder nur Wassermelone zu essen!»

      Kein Wunder, dass Nelle sich seltsam benahm.

      An diesem Abend ging Truman seine Büchersammlung durch und suchte eines für Nelle aus. Ein Abenteuer der Rover Boys. Es hieß: Das Geheimnis des gesunkenen U-Boots.

      Das wird ihr gefallen, dachte er. Dann legte er es für sie oben auf die Mauer.

      Als er am nächsten Morgen aufwachte, war das Buch fort.

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      2.

       Der Prinz und das arme Mädchen

      Es war ein besonders träger Morgen in der kleinen Stadt Monroeville, Alabama. Ein ganzer Tag war verstrichen, ohne dass Truman von Nelle gehört oder sie gesehen hatte. Er saß pflichtbewusst auf der Veranda und beobachtete ihr Haus mit seinen an Lebkuchen erinnernden Verzierungen an der Fassade und der rostigen Wetterfahne. Wegen der Hitze hing das Louisianamoos von den Eichen rundherum schlapp herab. Nur ein verbeultes Hoover-Cart, das von zwei alten Ponys gezogen wurde, weckte für einen Moment seine Aufmerksamkeit.

      Die einzigen Leute, die sich draußen aufhielten, waren dunkelhäutige Arbeitskräfte, die Rasen mähten oder mit Besen aus Hartriegelzweigen den Gehsteig fegten. Gelegentlich hallten Hammerschläge des Hufschmieds durch die Gassen, dann war es wieder still.

      Truman wurde es langweilig, auf Nelle zu warten, und so spazierte er die unbefestigten, staubig-rötlichen Wege entlang, die zwischen den Baumwollfeldern und Viehweiden der Umgebung verliefen. Dann schlenderte er am Fluss entlang und blickte zu den Bussarden hoch, die hoch über ihm kreisten. Nachdem er eine Weile an der Schokoladenwein-Pflanze geschnuppert und versucht hatte, die Nachtigallen dazu zu bringen, sein Pfeifen nachzumachen, kehrte er wieder nach Hause zurück.

      Als es Nachmittag wurde, saß er erneut im Schatten der Veranda und fächelte sich in der betäubenden Hitze Luft zu. Eingehüllt in den Duft von Schlüsselblumen und Azaleen, der den Garten erfüllte, schlummerte er ein. Die schrille Sirene des Sägewerks weckte ihn. Er streckte sich wie eine träge Katze und bemerkte erst dann auf dem Beistelltischchen die zwei Bücher, die er Nelle geliehen hatte.

      Er sprang auf und blickte sich nach ihr um, aber niemand war zu sehen. Als er nach den Büchern griff, entdeckte er darunter ein klitzekleines Taschenwörterbuch. Auf dem roten Einband stand: Das neue Webster-Wörterbuch und vollständiges Nachschlagewerk für die Westentasche – 45.800 Wörter. Er schlug es auf.

      Auf die Titelseite hatte jemand mit der Hand geschrieben:

      Für Nelle. Die Macht von Worten vermag Kriege auszulösen oder Frieden zu schaffen. Benutze sie weise. – A. C.

      Nelle war durchgestrichen und in kindlicher Schrift


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