Tru & Nelle. G. Neri

Tru & Nelle - G. Neri


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Anzug mit Fliege und sein feines blondes Haar war sorgsam über die Stirn gekämmt. Sook trug ihr übliches blaues Kleid mit Karomuster und eine weiße Schürze.

      Sook war seit seiner Ankunft in Monroeville die einzige Gesellschaft für ihn gewesen. Offengestanden lebten alle Bewohner von Monroeville wie Farmer – standen auf bei Sonnenaufgang und gingen um acht schon wieder ins Bett. Alle, bis auf Truman und Sook. Während die anderen Großcousinen und sein Großcousin unter der Woche zur Arbeit gingen, blieben die beiden seltsamen Käuze zu Hause, manchmal zusammen mit ihrer Teilzeit-Köchin, einer schwarzen Frau namens Little Bit.

      Truman wurde von allen wie ein empfindsamer blaublütiger Prinz behandelt. Keiner konnte sich auch nur vorstellen, dass er ein Maultier einspannte oder unter der heißen Sonne auf dem Baumwollfeld Unkraut hackte. Deshalb ließen sie ihn, genau wie Sook, einfach in Ruhe.

      Ihre Aufgabe war es, die Hühner zu füttern oder die Scuppernong-Trauben zu pflücken. Sie wuchsen an dem Zaun, den Großcousine Jenny hinter dem Haus aus Tierknochen gebaut hatte. Manchmal gingen sie auch in den Wald, wo sie nach Kräutern für Sooks besondere Arzneitränke suchten.

      Sonntags vertrieben sie sich die Zeit mit dem Basteln von Drachen, die sie mit Bildern aus alten Zeitschriften verzierten. Ansonsten faulenzten sie auf der Veranda, wo Sook Truman Geschichten erzählte oder die Witze aus der Zeitung vorlas oder ihn einfach nur verwöhnte.

      Sook las ihm gerade den Comicstrip Kleine Waise Annie vor, als sie aufblickte und lächelte. «Oh, hallo, Miss Nelle. Kommst du zum Tee?»

      Nelle war von oben bis unten verdreckt und trug eine zerlumpte Latzhose. Ihr Blick war auf Trumans ordentlich gebügelten Anzug geheftet. «Ach, ich glaube, dafür bin ich nicht richtig angezogen, Miss Sook», sagte sie leise.

      «Ach, Unsinn, Miss Nelle. Uns musst du nicht beeindrucken. Miss Jenny putzt Tru gern heraus, aber eigentlich ist er gar kein so schnieker Bursche. Er isst genauso gern wie wir alle heiße Biscuits mit dunkler Soße und Weißdornmarmelade.» Sie hörte Nelles Magen knurren. «Ich weiß, dass du Kuchen magst, Liebes. Möchtest du etwas davon?» Sook hielt ihr den Teller hin, sodass sie die Naschereien sehen konnte.

      Nelle lief das Wasser im Mund zusammen. «Also … vielleicht. Nur einen Bissen, Ma’am.» Sie machte einen Schritt auf die Veranda und bemerkte ihre schmutzigen Füße. «Ich kann ja einfach hier auf den Stufen sitzenbleiben. Danke, Ma’am.»

      Da saß sie und aß ihr Kuchenstück, während Sook fortfuhr, den Comic laut vorzulesen. Truman sah Nelle zu, wie sie das ganze Stück mit drei Riesenbissen verschlang. Als sie fertig war, stand sie auf, als wolle sie gleich gehen. Aber dann setzte sie sich doch wieder hin.

      «Wie geht’s deiner Mama?», fragte Sook, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

      Nelle runzelte die Stirn und schaute zu Boden. «Sie ist für eine Weile weg, unten an der Golfküste, weil sie da behandelt wird, Miss Sook. Daddy sagt, sie wird so gut wie neu sein, wenn sie sie wieder rauslassen.»

      «Wo denn raus?», fragte Truman.

      Da warf Sook ihm einen Blick zu, der ihm zu verstehen gab, nicht weiterzubohren. «Das ist gut, Liebes. Sogar ich brauche hin und wieder eine Pause, sonst würde ich auch verrückt –»

      Schlagartig wurde Sook knallrot. «Oh, seht mal – der Kuchen ist ja alle. Ich hole uns noch welchen.» Bevor sie ging, flüsterte sie Truman ins Ohr: «Sei nett zu ihr.»

      Truman saß allein mit Nelle da und war sich nicht sicher, was er sagen sollte. In seiner Jackentasche spürte er das Wörterbuch, das sie ihm hingelegt hatte. Vielleicht konnten sie ein Wortspiel spielen, nachdem er sich den ganzen Vormittag über interessante Wörter eingeprägt hatte. Aber dann fiel ihm etwas Besseres ein.

      «Hättest du gern noch ein anderes Buch zum Lesen?»

      Ihre Augen begannen zu leuchten.

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      3.

       Insel der Merkwürdigen

      Truman nahm Nelle mit in das große, weitläufige Haus, das mit allen möglichen schönen Dingen dekoriert war, die seine Großcousine Jenny über die Jahre gesammelt hatte: uralte Papierrosen, zierlicher Nippes in jeder Form und Größe, Glasvitrinen mit feinem Porzellan und Silber aus der ganzen Welt.

      Vorbei an zwei majestätischen Säulen, die bis zur hohen Decke hinaufreichten, durchquerten sie die kleine Eingangshalle. Im Esszimmer saß Jenny über ihrem Wirtschaftsbuch. Obwohl sie schon über fünfzig war, sah sie mit ihrer milchweißen Haut und dem zu einem Knoten aufgesteckten rötlichen Haar immer noch hübsch aus.

      Jennys eisblaue Augen musterten sie über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. «Guten Morgen, Miss Nelle. Wie geht’s deiner Mutter?»

      Truman mischte sich ein. «Darüber sollen wir nicht sprechen, Großcousine Jenny. Weil sie doch … du weißt schon, verrückt ist», flüsterte Truman eine Spur zu laut.

      Jenny runzelte die Stirn. «Du darfst unserem Truman nicht böse sein, Liebes. Auch wenn er ein schlaues Kerlchen ist, kann er manchmal ziemlich … unhöflich sein.»

      «Das ist schon in Ordnung, Miss Jenny», sagte Nelle und sah sich bewundernd um. «Truman wollte mir nur ein neues Buch ausleihen, Ma’am.»

      Jenny lächelte. «Wie schön, Liebes.» Erst da bemerkte sie, wie schmutzig Nelle war. Seufzend widmete sie sich wieder ihrer Buchhaltung. «Tja, diese Bücher möchtest du jedenfalls nicht lesen, das kann ich dir versichern. Aber sie halten unsere Finanzen in Ordnung, damit ich die Rechnungen bezahlen kann, um mein Hutgeschäft zu betreiben und damit dieses Haus schuldenfrei bleibt.»

      Truman zog Nelle weiter in den Flur, den Regale mit ledergebundenen Büchern in allen Farben vom Fußboden bis zur Decke säumten. Nelle staunte. So viele Bücher hatte sie noch nie gesehen.

      «Nicht die hier, Dummerchen», sagte Truman. «Das sind langweilige Erwachsenenbücher. Die richtig guten habe ich in meinem Zimmer.»

      «Psst, Tru.»

      Es war sein alter Großcousin Bud, der den Kopf aus seiner Zimmertür steckte. Bud hatte schneeweißes Haar und gelbliche Zähne von dem vielen Tabak, den er rauchte. «Lust auf eine Partie Karten, kleiner Kumpel?»

      «Jetzt nicht, Bud. Ich habe Besuch.»

      Bud sah Nelle und nickte ihr zu. «Morgen, Miss Nelle. Wie geht’s deiner –»

      Truman fiel ihm ins Wort. «Ich schaue später vorbei und vielleicht können wir dann Quartett spielen, ja?»

      Bud zwinkerte ihm zu. «Alles klar, kleiner Kumpel.» Damit schloss er die Tür zu seinem verrauchten Zimmer.

      Nelle rümpfte die Nase. «Dieser Tabak riecht seltsam.»

      «Das ist medizinischer … gegen sein Asthma. Komm weiter.»

      Er führte sie über den Flur zu seinem Zimmer. Aber gerade als er die Tür aufmachen wollte, schwang die Tür genau gegenüber auf. Darin stand seine Großcousine Callie. Callie war Lehrerin, streng gekleidet, mit kohlschwarzem Haar und schmalen grauen Augen.

      «Was hast du denn vor, junger Mann?», sagte sie und musterte ihn. «Hast du deine Aufgaben erledigt?»

      Truman verschränkte die Arme und richtete sich groß auf. «Nein, Ma’am. Weil nämlich Sommer ist. Und weil du nicht meine Mutter bist!»

      «Du impertinenter Wicht – ich hab ja gesagt, dass du nichts als Ärger machen wirst, sobald du einen Fuß in dieses Haus gesetzt hast», schnaubte sie. «Wenn du eine Mutter hättest, die sich um dich kümmern würde, dann würden wir uns nicht um dich kümmern müssen! Was du brauchst, wäre ein ordentlicher Schlag mit dem Stock auf dein Hinterteil –»

      Truman lachte. «Wenn du mir nur ein Haar krümmst, wird


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