Post mortem. Amalia Zeichnerin
Sie das, soll ich die Speiseröhre und die Trachea aufschneiden, damit wir wissen, ob Miss Westray sich einfach nur unglücklich verschluckt hat?«
Er blickte von der Leiche auf, an der er gerade arbeitete. »Tun Sie das ruhig, Mrs Fox.«
Mabel straffte sich, nahm sich ein Skalpell und setzte die entsprechenden Schnitte an. Vorsichtig zog sie danach die Haut an den Rändern der Schnitte auseinander.
»Die Luftröhre zeigt deutliche Anzeichen einer starken Anschwellung. Aber es ist kein verschlucktes Stück einer Praline darin«, sagte sie zu Doktor Tyner. »Ich frage mich nur, wodurch diese Anschwellung entstanden ist. Pralinen mit einer Apfel-Zimt-Füllung? Das kann unmöglich die Ursache gewesen sein.«
»Ich werde einige Tests mit diesen Pralinen durchführen lassen«, sagte Doktor Tyner, ohne aufzusehen. »Falls da Gift im Spiel sein sollte, werden wir es sicher herausfinden. Ich frage mich allerdings, wie jemand Gift in die Pralinen gebracht haben könnte, ohne dass dies nach außen hin sichtbar ist.«
Mabel überlegte. »Wäre es nicht möglich, dass jemand selbst Pralinen hergestellt hat, die Gift enthalten, und sie dann in die Schachtel dieser Konditorei gelegt hat?«
»Ja, in der Tat, das ist allerdings denkbar. Die Pralinen sehen jedoch äußerst professionell aus, finde ich. Wenn Sie mit Ihrem Gedanken richtigliegen, wusste derjenige offenbar genau, was er tat. Oder sie.« Er kam zu ihr herüber. »Lassen Sie mich bitte einmal sehen.« Schweigend betrachtete er den aufgeschnittenen Kehlkopf und den Hals der Toten.
»Hm. Merkwürdig. Diese Rötungen auf der Haut und die Quaddeln könnten tatsächlich ein Anzeichen für eine Vergiftung sein. Es gibt ja zig verschiedene Gifte mit den unterschiedlichsten Wirkungen. Aber um das ganz genau herauszufinden, brauche ich eine richterliche Anordnung für eine größere Sektion. Wir werden dann auch die Halsweichteile entnehmen können und sie in ihrer Gesamtheit präparieren. Erst dann können Gerston und ich die Schwellungen genauer untersuchen. Ich spreche heute noch mit den Kollegen auf dem Revier, auch wegen des richterlichen Beschlusses.«
Mit der stumpfen Seite eines Skalpells drückte er die geschwollene Zunge der Toten leicht herunter. »Hm«, machte Doktor Tyner ein weiteres Mal. »Geben Sie mir bitte die Pralinenschachtel. Ich hole in der Zwischenzeit eine Pinzette und einen Träger.«
Mabel griff nach Miss Westrays Tasche und zog die Pralinenschachtel daraus hervor.
Wenig später kam Doktor Tyner mit einer Pinzette und einer dünnen Glasschale zurück. Mit dem kleinen, silbern glänzenden Werkzeug zog er vorsichtig eine Praline aus der Schachtel und legte sie auf den Boden der flachen Schale. Danach zerteilte er die Praline mit der Pinzette in der Mitte, hob eines der beiden Stücke hoch und betrachtete es eingehend. Anschließend roch er vorsichtig daran. »Wenn Sie mich fragen, sieht das darin nicht nach einer Apfel-Zimt-Füllung aus, wie es auf dem Etikett steht, sondern nach einer Erdnusscreme-Füllung. Es riecht auch eher danach.«
»Oh.« Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie darüber nachsann, was das bedeuten mochte. »Wenn jemand Miss Westray vergiften wollte, dann wäre es demjenigen wohl recht egal, was auf der Schachtel steht, sofern die Pralinen den Anschein erwecken, tatsächlich aus einer Konditorei zu stammen«, sagte sie. Die Übelkeit in ihrem Magen hatte sich während der Untersuchung gelegt, doch nun kehrte sie zurück.
»In der Tat. Das wäre eine Erklärung. Oder aber die Konditorei Bromleys hat die Schachtel falsch beschriftet.«
Er runzelte die Stirn. »Ich denke, so etwas kommt schon mal vor. Fehler passieren doch in allen Berufszweigen. Ich werde diese Pralinen auf jeden Fall auf Gift hin untersuchen lassen. Mein Kollege, Doktor Philmore, kennt sich damit besser aus als ich. Ich werde heute noch mit ihm sprechen.«
Mabel besann sich auf das, was sie gelernt hatte. Auf die kalten, harten Fakten. »Arsenik können wir wohl ausschließen, nicht wahr, Doktor?« Diese Substanz wurde teilweise als Heilmittel verwendet, unter anderem gegen die Syphilis, aber wenn sich Ärzte mit der Dosierung vertaten, kam es nicht selten zu Vergiftungen. »Da kommt es dann doch eher zu schweren Magen-Darm-Entzündungen mit Erbrechen, starken Schmerzen, Übelkeit und massiven wässrigen Durchfällen.«
»Ganz recht«, stimmte der Coroner ihr zu. Seine Stimme klang sachlich, fast als ob er einen Vortrag vor Studenten hielt. »Und irgendwann im weiteren Verlauf versagen Nieren, Herz und Kreislauf.« Er hob eines der Lider der Verstorbenen an. »Bei einer Belladonna-Vergiftung kann es ebenfalls zu Hautrötungen kommen, aber schauen Sie sich ihre Pupillen an, die sind nicht erweitert. Diese Hautrötungen und Quaddeln … es sieht fast aus wie Nesselfieber, aber das verläuft ja in der Regel nicht tödlich.«
Er blickte Mabel direkt an. »Wie schon gesagt, wir werden die Tote genauer untersuchen müssen. Bei manchen Giften sind Erstickungssymptome oder starke Hautrötungen die Folge, aber da werde ich weiter nachforschen. Möglicherweise war Zyankali im Spiel – bei einer entsprechenden Einnahme kommt es zu Atemnot.«
Er wandte sich an den Medizinstudenten. »Mr Gerston, wir hatten hier doch Anfang des Jahres einen Fall von Zyankalivergiftung. Was sind in einem solchen Fall die entsprechenden Symptome? Zählen Sie bitte auf, was Sie gelernt haben.«
John Gerston trat einen Schritt von dem Leichnam zurück, an dem er gerade arbeitete. »Die Vergiftungssymptome sind Atemnot, eine Reizung der Schleimhäute, die Bindehäute röten sich«, sagte er, als würde er aus einem Lehrbuch zitieren. »Laut Angaben einer Angehörigen litt unser Fall vor dem Eintritt des Todes an Schwindelgefühlen, er musste sich erbrechen und krampfte, bis schließlich eine Ohnmacht eintrat. Am Leichnam fiel auf, dass die Leichenflecken leuchtend rot waren.«
»Das ist hier ja nicht der Fall«, sagte der Doktor und zeigte auf den Leichnam. »Außerdem riechen die Pralinen nicht nach Bittermandel.«
Mabel überlegte. Sich auf die Fakten zu konzentrieren, half ihr gegen ihren noch immer rebellierenden Magen und auch gegen die aufkeimende Wut darüber, dass möglicherweise jemand Miss Westray nach dem Leben getrachtet hatte. »Und wenn nur diese eine Praline, die sie gegessen hat, Zyankali enthielt?«
»Nun, in dem Fall müsste es eine sehr hohe Konzentration gewesen sein. Wie gesagt, für eine gründlichere Untersuchung des Leichnams benötige ich einen richterlichen Beschluss. Und unter Umständen auch die Zustimmung der Angehörigen. Sagen Sie, Mrs Fox, würden Sie mir einen großen Gefallen tun und noch heute bei Miss Westray zu Hause nach der Adresse von deren Angehörigen forschen? Die Schlüssel befinden sich ja wohl in der Handtasche, zumindest gehe ich davon aus.«
Mabel zögerte. Wie schon auf dem Weg hierher erschien es ihr ganz und gar nicht richtig, in den Sachen der Verstorbenen zu wühlen. Andererseits mussten sie die Verwandten von Miss Westray verständigen und sie hatte keine Ahnung, wo diese wohnten. Eine Alternative wäre es, zunächst in ihrem Bekanntenkreis herumzufragen. Doch womöglich würde es Tage in Anspruch nehmen, wenn sie erst entsprechende Nachrichten schrieb und dann auf Antwort wartete. Einen Moment lang war sie hin- und hergerissen.
Doktor Tyner musterte sie mit gerunzelter Stirn, er wartete natürlich auf ihre Antwort.
»Das ist ein guter Gedanke«, erwiderte sie schließlich und nickte.
Der Arzt seufzte. »Danke. Das würde mir einiges an Lauferei ersparen. Wie schon gesagt, ich gebe Ihnen ein Schreiben mit, das Sie dem Vermieter vorlegen können. Damit dürften Sie keine Schwierigkeiten bekommen.«
Mabel lächelte traurig. »Ich habe die Zeit, mich darum zu kümmern. Es ist wirklich kein Problem.« Sie machte sich daran, die Schnitte wieder zuzunähen.
Später verließ sie mit dem Schreiben des Coroners, Miss Westrays Schlüsselbund sowie einer Visitenkarte, auf der die Adresse der Verstorbenen stand, das Leichenschauhaus. Die Handtasche und die Pralinenschachtel behielt Doktor Tyner vor Ort. Ob die Pralinen tatsächlich vergiftet worden waren? Wer um alles in der Welt würde etwas so Niederträchtiges tun? Hatte Pauline Westray jemanden so sehr verärgert, dass dieser sich auf mörderische Weise rächen wollte? Oder steckte etwas anderes dahinter? In Gedanken versunken machte sich Mabel an den Rückweg in die Sutherland Street, während ein unangenehmer