Eisernes Verderben. Franziska Franz
Nasenspitze an. Einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, ist allerdings nicht gerade sehr wahrscheinlich, Frau Melchior, und wenn man nicht im entsprechenden Milieu verkehrt, nahezu ausgeschlossen. Da werden Sie eher Opfer eines Verkehrsunfalls oder Sie brechen sich beim Treppensturz das Genick – was Gott verhindern möge.“
„Ich frage mich oft, ob ich wohl schon mal einem Verbrecher begegnet bin, Herr Doktor. Ja, darüber denke ich wirklich sehr oft nach, und wenn ich ehrlich bin, frage ich mich nicht, ob, sondern eher wie vielen. Womöglich auf dem Anlagenring, da treibt sich ja allerhand dubioses Volk herum.“ Sie wandte den Kopf in meine Richtung, ohne mich anzusehen, und sprach sehr leise. „Ich bin mir sogar sicher, dass schon mal einer hinter mir her war, Herr Doktor.“ Ihr Blick blieb an dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand haften. „Es war dieser … dieser schreckliche Geruch, ein schmuddeliger Mann, er lief eine ganze Weile hinter mir her, er roch nach Schweiß und Zigaretten, derselbe Geruch wie damals.“ Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr. „Die Angst kroch eiskalt an meinen Beinen hoch und ich fürchtete, nicht weiterlaufen zu können. Meine Beine waren auf einmal schwer wie Blei. Doch dann kam uns zum Glück ein Fahrradfahrer entgegen und ich nahm mir ein Herz, hielt ihn an und fragte ihn nach dem Weg. Mein Verfolger ging weiter und verschwand aus meinem Blickfeld.“
Ich war hellhörig geworden – „damals“, das war das erste Mal, dass sie ansetzte, um von ihrer Vergangenheit zu sprechen. Da musste ich nachhaken. „Frau Melchior, Sie sagten, ‚derselbe Geruch wie damals‘, was meinten Sie damit?“
Sie begann zu zittern. „Darf ich, ich meine, wäre es möglich, dass Sie mir einen Schluck Wasser bringen?“ Ihre Stimme klang belegt, als sie sich aufrichtete.
„Aber natürlich, sofort.“ Ich holte ein Glas und eine Flasche Wasser aus der Teeküche, schenkte ein und reichte ihr das Glas. „Immer mit der Ruhe, Frau Melchior, lassen Sie sich Zeit, entspannen Sie sich. Hier wird Ihnen nichts geschehen. Für Sie wird es befreiend sein, über Dinge zu sprechen, die Sie verletzt haben, Sie werden sehen.“
Sie trank in hastigen Zügen, stellte das leere Glas auf den flachen Tisch vor der Couch und wischte ihre feuchten Hände an ihrer Hose ab. Dabei blieb sie aufrecht sitzen. Unruhig sah sie sich im Raum um, als suche sie einen geeigneten Punkt, auf dem sie ihren Blick ruhen lassen konnte. Schließlich sagte sie: „Als ich klein war, wohnte ich mit meinen Eltern in der Rhönstraße, also im Ostend. Ich durfte von dort aus allein zum Spielplatz in der Nähe laufen. Nachmittags holte mich mein Vater immer ab, wenn er von der Baustelle kam. Er war Kranfahrer. Ich schämte mich dafür, denn er roch stark nach Schweiß und nach Zigaretten, er war Kettenraucher. Nie hatte er ein nettes Wort für die anderen Kinder übrig und erst recht nicht für mich. Ja, ich schämte mich so sehr. Jedes Mal ging es ihm nicht schnell genug, dass ich mit ihm kam. Ich hatte solche Angst vor diesem Moment. Regelmäßig bestand er auf einem Umweg über den Röderbergweg. Ich musste vor ihm herlaufen, trotzdem konnte ich ihn riechen, und das machte mir entsetzliche Angst. Weiter unten am Röderbergweg, da gab es dichte Hecken und Gebüsche. Er sagte dann, dass ich mich dort erleichtern sollte, ich dürfe nie einhalten, davon werde ich krank. Er sah mir jedes Mal dabei zu, es war furchtbar.“ Sie fing an zu weinen.
„Hat er …“
Sie hob die Hand. „Ich möchte nicht mehr darüber reden, ich schaffe das einfach nicht.“
Ich reichte ihr ein Taschentuch und wartete, bis sie sich einigermaßen gefasst hatte. „Es ist, wie gesagt, gut und wichtig, dass Sie aussprechen, was Sie bewegt. Darf ich fragen, ob Ihr Vater noch lebt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Er starb vor ein paar Jahren an Lungenkrebs.“
„Er wird Ihnen also nie wieder etwas zuleide tun, Frau Melchior, nie! Er hat seine Strafe bekommen, auch wenn mir nicht zusteht, das zu sagen, denn ich weiß nicht, was er noch getan hat. Ich kann jedoch verstehen, was das mit Ihnen gemacht hat. Sie müssen nun lernen, sich Ihren Ängsten zu stellen, Sie sind eine erwachsene Frau: Richten Sie sich körperlich auf, laufen Sie selbstbewusst durchs Leben, Sie sind viel stärker, als Sie glauben, vertrauen Sie mir.“ Endlich hatte ich einen Ansatzpunkt. Endlich konnte ich ihr helfen. Ich streckte mich. „Allein anhand der Körperhaltung kann man einen Menschen einschätzen. Wenn Sie sich klein machen, gar ängstliche Blicke um sich werfen, dann bringen Sie die Menschen erst auf dumme Gedanken. Verhalten Sie sich jedoch selbstbewusst und wirken Sie stark, wird man Sie nicht belästigen. Glauben Sie mir, Körpersprache macht eine Menge aus. Deswegen sind besonders junge Mädchen leider oftmals Opfer. Oft sind sie noch nicht ausreichend gefestigt. Frau Melchior, es ist momentan doch schon recht lange hell. Ich würde Ihnen gerne etwas verordnen, nämlich dass Sie nachmittags, wann immer Sie Zeit haben, über den Anlagenring laufen, oder von mir aus gehen Sie zum Hauptbahnhof, jedenfalls an irgendeinen Ort, der Ihnen nicht recht geheuer ist. Um diese Tageszeit sind dort so viele Menschen unterwegs, dass Ihnen nichts passieren kann. Setzen Sie sich gegen Ihre Ängste durch, damit diese in Ihrem Leben nicht zunehmend mehr Raum einnehmen. Sie werden sehen, bis zu unserem nächsten Treffen …“ Ich stand auf, lief zu meinem Schreibtisch und schaute auf meinen Kalender. „Also, unser nächstes Treffen ist am kommenden Mittwoch – nämlich morgen in einer Woche. Bis zu unserem nächsten Treffen werden Sie deutlich weniger Angst davor haben, über den Anlagenring zu laufen oder am Hauptbahnhof zu parken oder wo immer Sie sich sonst aufhalten wollen. Kein Mensch wird Ihnen ein Haar krümmen. Gehen Sie zielstrebig und verbieten Sie sich, sich ängstlich umzusehen. Wir werden dann über all Ihre Gefühle sprechen. Tun Sie mir einen Gefallen: Haben Sie keine Angst, Sie brauchen sich nicht umzudrehen. Nicht an diesen belebten Orten.“
„Und da heißt es heutzutage, man solle achtsam sein, besonders an belebten Plätzen, schon wegen der Terrorgefahr, und das noch dazu in einer Stadt wie Frankfurt. Und Sie sagen, dass ich mich nicht umdrehen soll? Na, ich weiß nicht so recht.“
„Liebe Frau Melchior, das soll ja auch nicht bedeuten, dass Sie leichtsinnig durchs Leben laufen. Allerdings dürfen wir uns wegen etwaiger krimineller Handlungen oder der Gefahr eines Anschlags auch nicht alle einschließen. Sie wissen, damit spielen wir den Terroristen nur in die Hände. Was ich meine, ist Folgendes: Gehen Sie mit offenen Augen durchs Leben, versuchen Sie stark und selbstbewusst zu sein und glauben Sie an sich. Tun Sie Dinge, die Ihnen Spaß machen, die Sie gut können, von denen Sie wissen, dass sie Ihnen leichtfallen, denn das stärkt ungemein. Glauben Sie mir bitte.“
Eine Weile sagte sie nichts. Schließlich nickte sie beinahe unmerklich. „Ich werde Ihren Rat beherzigen, Doktor Falkenberg. Und ich verspreche, dass ich mir alle Mühe geben werde.“
„Wenn Sie gesund werden wollen, dann wäre das ein guter Anfang. Zeigen Sie, was in Ihnen steckt. Sie schaffen das!“ Den letzten Satz betonte ich.
Eine ganze Weile sah sie zu Boden. Dabei rieb sie sich die Hände und wischte sie erneut an ihren Hosenbeinen ab, bis ihr Entschluss feststand: „Ich werde es versuchen, bereits ab morgen. Ich möchte ja, dass es mir bald wieder besser geht.“ Sie blickte mich schüchtern an. „Sonst wäre ich nicht zu Ihnen gekommen. Ich weiß ja, von nichts kommt nichts.“
Zufrieden stand ich auf. „Bravo! So soll es sein. Führen Sie Tagebuch, wenn Sie das möchten. Schreiben Sie jedes Mal auf, was Sie empfunden haben, das wird Ihnen helfen. Und wenn Sie wollen, bringen Sie Ihr Tagebuch hierher mit und lesen mir daraus vor.“ Ich kritzelte meine Handynummer auf ein Stück Papier und hielt es ihr hin. „Hier, damit Sie wissen, dass Sie im Notfall mit mir sprechen können. Und besorgen Sie sich Pfefferspray – nur für ein sicheres Gefühl, nicht um es zu benutzen.“
Lächelnd nahm sie den Zettel entgegen und steckte ihn in ihre Handtasche, die auf dem Boden stand. „Danke, Herr Doktor, das werde ich auf jeden Fall tun.“
Ich saß zu Hause vor meinem Laptop, dachte an mein Gespräch mit Hohmeister und googelte den Ironman. Ein Mausklick und die gewünschte Webseite öffnete sich. Wer weiß, vielleicht würde ich mich doch gerne noch einmal mit Hohmeister treffen und mir anhören, wie er das umzusetzen gedachte und wie viel Zeit er in dieses Projekt stecken wollte. Wenngleich mir nicht klar war, ob ich das nicht vorschob. Wahrscheinlich war ich in erster Linie neugierig darauf, was er von mir wollte. Immerhin hatte auch er Psychologie studiert und verstand es womöglich, mich zu täuschen. Wollte er alte Erinnerungen