Fear Street 46 - Besessen. R.L. Stine
Scherben zu Jessies Füßen. „Rühr dich nicht von der Stelle!“, rief sie. „Du bist barfuß!“
Mit einem Mal platzte Rich herein. „Du bist so widerlich!“, brüllte er Emily an.
Emily starrte ihren Stiefbruder an. Normalerweise hatte er die gleiche helle Haut wie Jessie. Doch jetzt war er hochrot vor lauter Wut und Schmerz. Er ließ einen weiteren frustrierten Schrei los, ein lautes, tierisches Gebrüll.
„Du miese Kröte! Du verdammte, miese Kröte!“, fuhr er Emily an.
„Ich?“, rief Emily. „Was hab ich denn getan?“
„Du Kröte – du hast gepetzt!“
„Gepetzt?“
Emily wandte sich Hilfe suchend an Jessie. Sie hatte sich hingekniet und sammelte vorsichtig die Bruchstücke des gläsernen Schwans vom Boden auf. „Du bist ein Vollidiot, Rich“, knurrte Jessie verärgert. „Schau, was du angerichtet hast!“
Rich beachtete sie nicht. Er stürmte auf Emily zu. „Dad hat mir Hausarrest gegeben wegen der Party ges-tern Abend. Das hab ich dir zu verdanken.“ Er zeigte mit dem Finger auf Emily.
Die Party. Bei Steve Arnold. Steves Eltern waren übers Wochenende weggefahren. Deshalb hatte er ein paar Freunde eingeladen. Und diese Freunde hatten ein paar von ihren Freunden mitgebracht und … Das Ganze hatte sich rasch zu einer ziemlich wilden und lautstarken Party entwickelt.
Emily und Josh waren auch eine Weile dort gewesen. Aber als bis um zehn Uhr keiner von ihren Freunden aufgetaucht war, hatte Emily Josh überredet zu gehen.
Auf dem Weg zur Tür hatten sie Rich und ein paar seiner Freunde in der Küche gesehen. Einer von ihnen hatte im Kühlschrank eine Sechserpackung Bier entdeckt und eine Dose an Rich weitergereicht. Emily hatte nicht erkennen können, ob Rich sie ausgetrunken hatte oder nicht.
„Ich hab dich nicht verraten“, antwortete sie. „Keine Ahnung, wie Dad herausgefunden hat …“
„Ach, komm!“ Rich schnitt ihr das Wort ab. „Lüg doch nicht! Du warst schließlich dort. Du hast mich gesehen. Und das Nächste, was passierte, war, dass Dad mir Hausarrest gegeben hat. Ich kann doch eins und eins zusammenzählen.“
„Wie erstaunlich!“, mischte sich Jessie ein. „Mathe muss dein stärkstes Fach sein!“ Sie warf die Glasscherben in den Papierkorb unter Emilys Schreibtisch.
„Vielleicht kannst du den Schwan wieder zusammenkleben“, sagte Emily zu ihr.
„Nein. Es sind zu viele Teile“, erwiderte Jessie und blickte zu ihrem Bruder hinüber.
„Rich, ich schwör’s dir“, sagte Emily, „ich hab deinem Vater kein Wort erzählt.“
„Du Lügnerin!“, entgegnete Rich heftig. „Es ist unglaublich. Ich hab Hausarrest! Ich sitze fest!“
„Oh, wie entsetzlich!“, antwortete Jessie. „Jetzt kannst du einen Abend mal nicht mit deinen dämlichen Freunden weggehen.“
„Einen Abend?“ Rich stieß ein schrilles Lachen aus. „Das denkst du! Dad hat mir sechs Wochen Hausarrest gegeben. Weißt du, was das bedeutet? Meine Freunde und ich können Die Nacht der tanzenden Augäpfel nicht zu Ende drehen!“
„Oh Schreck, welch ein Verlust!“, rief Jessie sarkastisch.
Rich wirbelte herum. „Halt die Klappe, du Miststück!“
Emily fand, dass Jessie Recht hatte. Der Horrorfilm, den Rich und seine Freunde drehten, war wirklich ziemlich blöd. Emily hatte eine Szene daraus gesehen, die sie vor ihrem Haus aufgenommen hatten. Aber Rich war förmlich besessen davon.
Emily versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. „Es tut mir Leid, Rich. Aber ich hab keine Ahnung, wer es deinem Vater erzählt hat.“
„Hör mal zu, Rich“, sagte Jessie, „statt dir den Kopf darüber zu zerbrechen, wer es herumposaunt hat, solltest du dich lieber ein bisschen zusammenreißen. Benimm dich doch nicht wie ein Kleinkind. Dann wird Dad dich auch nicht so lange einsperren.“
Rich beachtete seine Schwester nicht. Drohend ging er noch einen Schritt auf Emily zu und starrte sie wütend an.
Instinktiv wich Emily zurück und ging in Habachtstellung. Sie war sehr empfindlich geworden nach allem, was letztes Jahr geschehen war.
„Das zahl ich dir heim“, knurrte Rich mit bebender Stimme. „Das zahl ich dir heim, Emily! Ich hab diese dämliche Familie nie gewollt. Ich zahl dir heim, dass du mir mein Leben verpfuscht hast!“
Er stapfte davon und knallte die Tür hinter sich zu.
Emily ließ sich auf den Rand ihres Bettes fallen. Jessie hockte sich neben sie.
Keine von beiden sagte ein Wort. „Der Tag fängt ja gut an“, dachte Emily. „Ausgerechnet dieser Tag.“
„Ich hab ihn nicht verpetzt“, sagte sie.
„Ich weiß.“
„Du weißt es?“ Emily schaute Jessie überrascht an. Plötzlich machte sich ein quälender Verdacht in ihr breit. „Woher?“, fragte sie stirnrunzelnd.
Jessie wurde rot. „Weil … Immer wenn Rich sich einer Sache völlig sicher ist, dann ist er garantiert auf dem Holzweg.“
„Dein Bruder ist wirklich seltsam“, murmelte Emily und starrte zu Boden.
„Alle Vierzehnjährigen sind seltsam“, erwiderte Jessie.
Emily blickte zur Tür hinüber. Mit gedämpfter Stimme fragte sie: „Hast du mal die Videos gesehen, die er sich ausleiht? Diese Clive-Barker-Filme? Wenn ich mir die anschauen würde, könnte ich nachts nicht mehr schlafen.“
„Er schläft ja auch nicht“, meinte Jessie. „Er hockt immer im Fernsehzimmer und schaut in die Röhre.“
„Und dieser merkwürdige Cyberpunk-Kram, den er immer liest“, fügte Emily hinzu. „Der macht ihn total verrückt.“
Jessie grinste sie an, doch Emily war immer noch ganz außer sich.
„Was ist denn?“, fragte Jessie.
„Ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl, er fängt jetzt an zu überlegen, wie er mich umbringen kann oder so. Du hast ja gehört, was er gesagt hat: , Das zahl ich dir heim!‘ Ich kann das nicht ertragen, Jess. Wirklich nicht.“
„Keine Sorge, das meint er nicht so“, versicherte ihr Jessie. „Er ist eben auch ziemlich angespannt. Du weißt schon, wegen Nancy.“
„Vielleicht hat sie Recht“, dachte Emily. „Vielleicht rege ich mich deshalb so sehr über Richs Drohungen auf. Weil Nancy nach Hause kommt.“
Jessie stand auf.
„Moment – ich glaub, da ist noch Glas“, warnte Emily. Sie zog ein Paar Turnschuhe aus ihrem Schrank und warf sie Jessie zu. „Ich hol den Staubsauger.“
„Nein, das mach ich schon“, widersprach Jessie.
Emily lächelte. Das war die neue Jessie. Vor einem Jahr war Jessie nur dann nett gewesen, wenn die Eltern gerade in der Nähe waren.
Emily hörte ein metallenes Klimpern und das Geräusch winziger Pfoten auf dem Holzfußboden des Flurs. Sie öffnete die Zimmertür und musste grinsen. Ihr Langhaardackel Butch steckte seine lange, schmale Schnauze zur Tür herein. Mit sanften, fragenden braunen Augen blickte er zu Emily empor.
„Butch!“, sagte sie leise und beugte sich zu ihm hinab. „Du Süßer. Du kommst, um mich zu trösten, stimmt’s? Komm her, mein Kleiner.“
Sie streckte die Arme nach dem kleinen braunen Hund aus.
Doch Butch sprang an ihr vorbei und trottete zu Jessies Bett hinüber.
„Oh nein!“, rief Jessie und sprang auf. „Verschwinde, Butch. Geh zu Frauchen. Jessie kann dich nicht ausstehen.“
„Sag