Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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Güte darin, einen Trost und ein fremdes Erschrecken. Rasch hob sie die Mutter auf starken Armen ins weiße, breite, weiche Bett, kalte Milch brachte sie und küßte Stirn, Mund und Augen wie lange nicht mehr. Vertraut war die Berührung der mütterlichen Lippen, lang entbehrt und wie eine Wiederkehr der halbvergessenen Kindheit. »Mein gutes Kind«, sagte die Mutter und wiederholte die Worte, und ihre Stimme war verwandelt, die Stimme einer alten, einer gewesenen, verlorenen, zurückgekehrten Mutter. »Jetzt bist du unwohl«, sagte die Mutter und: »Nun bist du eine Frau.« Und Fini verstand, was Tilly, die Erwachsene, immer gefragt hatte: ob sie auch schon unwohl sei. Eine stille Feier entzündete sich im Innern, ein heimliches Fest, als trüge man ein weißes Kleid und würde konfirmiert.

      »Bleib morgen zu Hause, geh nicht ins Büro«, sagte die Mutter. Weich und warm wie ein kleiner, lieber Wind ging ihre Stimme über Finis Gesicht. So merkwürdig verwandelt war alles; der Bruder schwieg, der sonst immer tobte, die Mutter summte leise in der Küche, und der Nachtwind spielte mit einer zart klirrenden Fensterangel im Nebenzimmer. Ruhe, weiße, war im Bett und in der Welt, die behagliche Wärme eines neugefundenen Heims, Heimat ohne Ende, Güte ohne Grenze und mit der Mutter die Gemeinsamkeit des Erwachsenseins und des Frauseins. Nicht mehr strafende Mutter war sie, sondern schwesterliche Frau.

      Spät am Abend klingelte die Nachbarin noch, auf einen Plausch kam sie; leise rasselte ihr Schlüsselbund, und man hörte sie reden. Fini lauschte; die Mutter sprach mit der Frau vom Krieg; sie lasen im Abendblatt den Sieg von Sadowa und sprachen von den Männern, die lange nichts mehr schrieben. Der Duft bratender Erdäpfel wandelte durch die Zimmer; die Frauen aßen und kicherten; jetzt erzählte die Mutter von Fini, und das Kichern der alten Frau wurde unangenehm, und ihr Flüstern kam wie ein Zischen unverständlich und beunruhigend aus der Küche.

      Zu schön war die Behaglichkeit des weißen, heimatlichen Bettes und zu aufregend ein mißtrauisches Lauschen. Es war besser, man legte sich gerade hin und dachte an gar nichts mehr.

      Aber plötzlich überfiel Fini der Gedanke an den schrecklichen verlorenen Brief, und sie rief die Mutter herbei und erzählte es ihr, die nicht erschrak und nicht fluchte, sondern gütiger wurde und weicher, Trost und Vermittlung versprach und mit beiden Händen die Decke glättete. So verwandelt hat sich die Welt, eine Dankbarkeit strömt aus tausend aufgebrochenen Quellen, und aus den Tiefen verschütteter Kindheit holen wir unsere alten, kleinen, frommen Gebete hervor und weinen ein bißchen zu dem auferstandenen Gott und schlafen ein.

      Um acht Uhr früh schon weckte eine schrille Klingel, eine Feldpostkarte des Vaters kündigte sie an oder eine Todesnachricht; eines von bei den nur konnte es sein. Tag für Tag, Stunde um Stunde wartete man auf die Karte, auf die Todeskarte vom Regiment, und man zitterte vor dem kurzen Geschrill der Glocke, das man ersehnte, wenn es ausblieb. Fini hörte der Mutter gewöhnliches Ächzen beim Aufstehen, das Schlurfen ihrer Pantinen bis zur Tür und zurück, den Gruß des Postboten und das Rattern der emporgezogenen, hölzernen Jalousien. Es dauerte ein paar Minuten, es waren Minuten süßer, banger Ungewißheit, die wir liebhaben, die gespannten Minuten mit dem angehaltenen Atem vor den großen Überraschungen, die man immer ersehnt, und wären sie auch fürchterlich.

      Aus der Küche scholl der Mutter freudiger Ausruf, herbei eilte sie ans Bett und setzte sich und meldete die Ankunft des Vaters, der schon unterwegs war, entronnen dem Tode, verletzt, und vielleicht für immer dem Hause wiedergegeben.

      Mit zärtlich zittrigen Fingern zerknitterte sie die rote Karte, schon sah sie aus wie am Busen zerdrückt, und der arme Kopf vergaß das Butterbrot für Josef und die Obliegenheiten der morgendlichen Stunden. Am Bettrand saß sie mit dünn gewickeltem Zopf und spann Träume, wollte Touren aufgeben, die vergeblichen wenigstens, und von Arnold, dem Onkel, die erträglichen und ertrags sicheren abkaufen, in den Gegenden der Munitionsarbeiter, die sichere Gehälter bezogen und verläßliche Ratenzahler waren.

      Eine merkwürdige Güte offenbarte das Leben, Gnaden schüttete Gott aus, er verwandelte die Mutter, die fluchende, die Rächerin und die Richterin, in die gütige, freudige Frau, fast konnte man’s nicht glauben. Oft schon waren Zweifel in Fini des Morgens gewesen, ob sie in die Wirklichkeit des Tages erwacht oder entschlummert war in die Fortsetzung des Traumes. Diesmal war alles unwahrscheinlich, die Sonne und der plinkende Sperling am blechernen Fensterbrett, die goldige Staub säule in der Ecke beim Ofen, die Wiederkehr des Vaters und die Ruhe im Herzen.

      Die Mutter strömte den schwülen Duft ihrer Körper- und Bettwärme aus, sie roch vertraut wie warme Milch und weckte in Fini das Verlangen, die Arme um den Hals der Frau zu legen, die nachgiebige Weichheit der mütterlichen Brüste zu fühlen und glücklich zu weinen. Wäre nicht der Gedanke an den verlorenen Brief noch lebendig in seiner ganzen Furchtbarkeit – wie wäre der Morgen sorgenfrei und wunderbar –, wäre die nächste, die kommende Stunde nicht in der Kanzlei vor dem Doktor Finkelstein.

      »Ich will hingehen und ihm erzählen«, sagte die Mutter. Und Fini entsann sich der Schuljahre und der mütterlichen Vermittlungen und ungeschickten Ausreden und des blamierenden Diskurses zwischen Mutter und Lehrer und entschloß sich, selbst zu gehen. Wenn Gott, der wiedergekehrte, neuerbetete, helfen wollte, so half er in allen schwierigen Dingen den kleinen Mädchen, und wie immer, wenn wir fast keinen Ausweg mehr wissen, dämmert in unsern Köpfen langsam eine Ausrede und formt sich zum wahrscheinlichen Bericht, an den wir selbst am Ende glauben. Konnte man nicht mit der Feldpostkarte hingehn und den verlorenen Brief mit Aufregung entschuldigen, die man wohl glaubte, während man eine Ohnmacht, eine gewöhnliche, belächelte? Vieles Wunderbare war seit gestern geschehn, viel mehr Wunder brachte das Heute. – Und Fini, die Kleine, ging über die Straßen, vor denen sie sich gestern so gefürchtet hatte, und war nicht mehr gering und verloren, sondern stolz und gehoben, gewachsen und reif geworden in der schwülen, regenschwangeren Luft des trüben Tags. Die Wolken hingen fallbereit. Kleiner schien die Unermeßlichkeit der Atmosphäre und näher der Welt; verlangend lag der Himmel über der Erde, bereit, sie zu umarmen und zu befruchten.

      Die Wunder hörten nicht auf, die Güte Gottes gebar sich immer neu. Ein Mann kam, eine Viertelstunde vor dem Doktor Finkelstein, und brachte den Brief, den verlorenen, in die Kanzlei. Fini gab ihm ihr letztes Straßenbahngeld. Sie sah den Mann gen au an und behielt sein Gesicht, seine Kleidung, seinen Schnurrbart treu im Gedächtnis. Jahrelang später wußte sie, daß ihm Haarbüschel, graue, aus den Ohren wuchsen. Allerdings kam der Sozius Blum in dem Augenblick herein, als der Mann fortging, groß, stark, duftend und strahlend, ein Gott der Frauen. Behutsam und väterlich faßte er Finis Arm, Milde und Verzeihung schwangen in seiner Stimme, als er zur Vorsicht für alle künftigen Fälle mahnte. Dabei spürte sie den sanften Druck seiner Finger am Oberarm, sie blickte zu ihm auf und sah seine sorgfältig verworrene Locke über dem linken Auge und seinen lächelnden Mund.

      Später floß das Wunderbare über in die gewöhnliche Lauheit ärgerlichen Tages. Fini saß vor dem braunen Telephonapparat mit den verwirrenden Stöpseln und verworrenen Bändern, den grüngetupften, den rotgestreiften, den blauen und den unbesetzten Löchern, vor denen die rätselhaften Klappen aus rätselhaften Gründen plötzlich abfielen mit leisem Schlag wie verwelkte, harte Augenlider. Das Telephon schrillte, die helle Fanfarenstimme einer Frau verlangte den Doktor Blum; ein Stöpsel flog in ein beliebiges Loch, und Fini wartete auf den Erfolg. Schon ahnte sie gleichzeitig, daß es eine falsche Verbindung war, und sie wartete furchtsam wie in der Schule, wenn sie auf der Tafel eine Rechnung falsch gelöst hatte und hinter dem Rücken das peinliche Schweigen der Klasse fühlte und den triumphierenden Atem der Lehrerin auf der Schulter. Wie konnte man auch an diesem stöpselreichen Apparat den richtigen finden, wenn ein Wunder nicht zu Hilfe kam?

      Ach, es kam nicht, sondern der Doktor Finkelstein. Gefräßig, mit einer Aktenmappe stürzte er, der ewig gefräßige, immer sturz bereite, streitbare, mit starken Brillengläsern funkelnde, herein; denn bei ihm hatte es geläutet und nicht beim Sozius, bei ihm hatte die Exzellenz Helena nichts zu suchen – »nichts zu suchen, sage ich« –, die Schlange, die sie beide noch ruinieren würde. »Ich mache keine Strafprozesse, das müßten Sie wissen, zehn Jahre sitzen Sie hier!« Lärm kündigte ihn an, den Doktor


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