Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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Pfiff der Sehnsucht und mit der Größe des Himmels.

      Zwei Menschen entkleideten sich drüben, hinter den Jalousien sah man ihre Schatten, eine Hand löschte mit wehendem Schwung die Kerze aus, und Mann und Frau gingen schlafen - jetzt flüsterten sie, wie die Eltern flüstern. Fini fühlte die Nachtluft nicht mehr, rote Kreise vor den Augen sah sie, ein jäher Blutstrom rann in die Schenkel, und die Spitzen ihrer Brüste wuchsen, streckten sich dem Draußen, den Lokomotiven, den Pfiffen, den Sternen entgegen.

      Der neue Tag graute; hinter den Häusern erhob sich ein weißes Leuchten. Sonntag war es. Der Morgen breitete sich aus, schnell hellte das Zimmer auf, am Nachmittag gehen wir mit Tilly ins Atelier; wir werden neue, wunderbare Dinge erleben, in einer unbekannten Welt, neue, große Dinge, kleine, kleine Fini.

      Dieser Nachmittag im Atelier behielt seine leuchtende Seltsamkeit noch lange Jahre später, als Fini schon in einer anderen Welt lebte und die süße Dummheit ihrer jungen Tage vergessen und vergraben hatte. Mitten zwischen den großen und klugen Menschen war sie noch einsamer als daheim, geringer als in den weiten, großen Straßen der großen Stadt, wenn sich das Leben eisern über ihrem kleinen Kopfe wölbte. Aus allen Bereichen der wunderbaren, ungekannten und kaum erahnten Welt strömten die Gedanken der Menschen, die schönen, die zarten, die unverständlichen, die weichen Gedanken, die Musik aus unzähligen, verstreuten und verborgenen Instrumenten. Die Hälfte verstand sie nicht und wußte nicht, wen zu fragen; denn unerreichbar war Tilly, die Erwachsene, Gewandte, die kühn zu Hause war, wo man sie hinstellte, und aus der glanzvollen Mitte, die sie einnahm und die ihr gebührte, in den stillen Winkel Finis kühles Lächeln schickte und kalt strahlenden Blick. Fini fühlte, daß keine Hilfe kam, und es war ihr, als müßte sie, ungelernt, wie sie war, in der nächsten Stunde zur Prüfung treten. Stolz und mutig waren die Menschen, gewiß kamen sie aus den großen, kühlen, bewachten Häusern und aus den reichen Zimmern, in denen Spiegel an jeder Wand die Haltung ihrer Besitzer unter steter Aufsicht halten und bis zur Vollkommenheit verbessern. Wer aber, wie wir, aus den engen Häusern kommt und in den Zimmern mit den blinden Spiegeln heranwächst, bleibt zage und gering sein ganzes Leben lang.

      Schon sprachen die Männer, sie hatten braune Gesichter und mutige Augen, und sie waren auch im Kriege gewesen, wie der Vater; aber sie kamen nicht klein und gedrückt und nicht taub nach Hause, und selbst aus ihrer Verstümmelung noch strahlte Glanz. Die Männer sind aus einer ganz anderen Welt als wir kleinen Mädchen, sie sind klug, stark und stolz, sie lernen viel und wissen viel, sie suchen die Gefahren, und durch die Straßen gehen sie herrschend, und ihrer ist, was sie sich wünschen, die Häuser, die Bahnen, die Frauen und die ganze Stadt.

      Ein Maler, Ernst hieß er, zeigte Fini Skizzenblätter, einen Hund, ein nacktes Mädchen und Schwalben im Flug, und man sah es ihm an, daß er schenken wollte, weil Fini ihm leid tat. »Sagen Sie doch etwas«, bat er sie, aber nichts hatte sie zu sagen, und alles wäre so dumm gewesen, was sie einem Maler hätte sagen können, der Schwalben im Flug, einen Hund und nackte Mädchen malen konnte und der so, was er erblickte und was ihm gefiel, auf ein Papier brachte. Er sprach, Fini hörte nicht jedes Wort; denn sie dachte, daß sie selbst etwas sagen müßte. Einige Male öffnete sie den Mund, aber ein halb gedachtes Wort blieb auf der Zunge, furchtsam über einen blamierenden Laut wachte das angestrengte Gehirn. Es wurde ihr heiß in der Ecke, sie wagte nicht aufzustehn, sie hätte ein paarmal auf- und abgehen mögen, und sie durfte es nicht, und hilflos wie ein Vogel mit geputztem Gefieder kauerte sie auf einem runden, kleinen Stuhl und die getünchte Wand im Rücken, an die sie sich nicht lehnen durfte wegen des dunkelblauen Kleides. Sie hörte aus einer großen Weite die Stimme des Hausherrn, der ein Musiker war und Ludwig hieß und eine geblümte Weste mit Perlmutterknöpfen trug, seine Stimme klang wie ein dunkles Cello, und Tilly durfte ihm du sagen, so nahe war sie den Menschen und glücklich.

      Eine Skizze Ernsts stellte eine Frau dar, die auf einem dünnen Pfad zwischen weiten Wiesen und Feldern ging, und obwohl kein deutlicher Zusammenhang war zwischen dem Weg dieser einsamen Frau und Fini, behielt sie das Blatt dankbar, und es schien ihr, als wäre diese schöne, sanfte Frau sie selbst und ihr enger Pfad zwischen unendlich grünenden Wiesen, in ihrer Fruchtbarkeit dennoch traurigen, mit der ganzen Melancholie vergeblichen Blühens. In braunes Papier bettete sie das Bild, so lag es drei Tage an der Wand ihres kleinen Täschchens, bis einmal, da niemand zu Hause war, auch dieses Blatt das geheime Versteck fand, das niemandem bekannte, auf der nackten Tischplatte, unter dem mit Reißnägeln befestigten Wachstuch, wo das schöne, glatte Silberpapier sich breitete, unschätzbarer Reichtum, im verborgenen leuchtend.

      Alle unsere kleinen Geheimnisse, die wir durch harte Monate geborgen haben vor dem rohen Zugriff unbekümmerter Hände, die lieben, kleinen Perlmutterknöpfe und das gepreßte Stanniolpapier, die künstlerischen Ansichtskarten und die farbenfreudigen Seidenproben, alle Dinge, die wir sorgsam gehütet haben wie warme Geschöpfe und an die wir täglich denken: im Büro, wenn der Doktor Finkelstein diktiert und wenn wir vor dem verwirrenden, braunen Telephonapparat ratlos sitzen, auf der Straße, wenn wir die Briefe austragen, die wichtigen Briefe in dem grüngefaßten Buch – unsere warmen Geschöpfe, unsere Tröstungen und unsere Geheimnisse – eines Tages – man räumt zu Hause auf – werden sie aufgestöbert aus ihrem sicheren Gewahrsam, schamlos preisgegeben dem schamlosen Blick der Mutter und ihrer grausam vernichtenden Hand. Wie kleine Vögel, die eine herzlose Gewalt aus dem schützenden Nest schüttet, gehen unsere kostbaren Dinge verloren in der wirren Wüste der auseinandergeschobenen Möbel.

      Eines Abends kehrte Fini heim und sah die Tischplatte nackt, ohne Wachstuch; Reißnägel lagen glänzend in einem kleinen Häuflein, und zerrissen waren die letzten Reste der künstlerischen Ansichtskarten und der Skizze mit der wandelnden Frau zwischen melancholisch blühenden Feldern. Es war eine Rückkehr in eine verwüstete Heimat, in der ein Feind gehaust. Zertrümmert lag die ganze, mit liebender Mühsal aufgebaute Welt. Ein Stück hing an jeder der verlorengegangenen Nichtigkeiten, und Fini weinte, obwohl sie wußte, daß sie lächerlich wurde vor dem Bruder und dem mitleidigen Hohn der Mutter. Niemand in der Welt verstand, was Fini verloren hatte: die wunderbare Skizze mit der wandelnden Frau, das Geschenk, empfangen in einer Stunde, in der die Tore eines neuen, fremden, wunderbaren Lebens aufgegangen waren. Fini weinte und schämte sich, daß sie kindischer Dinge wegen weinte, und sie weinte zugleich, weil sie die Kostbarkeit des Verlorenen verleugnen mußte.

      Nur einer verstand sie vielleicht, der Vater, der taube, der mit den Augen hörte; sie waren wissend und mitleidsvoll, und mit den letzten Resten seiner aufgehobenen Herrlichkeit bemühte er sich, den Sohn zu beschwichtigen und die fluchende Frau. Plötzlich fühlte Fini seine harte Hand auf der Schulter; gute Worte sprach er und setzte sich zu Fini in die Ecke, auf die Kante des großen, eisenbeschlagenen Koffers, und beide waren sie Verbitterte und Gefesselte im Reiche der Mutter und des tobenden Bruders. Seit diesem Tag liebte Fini ihren Vater. Die nie gestillte Sehnsucht lebte auf, die Sehnsucht nach einer kleinen, eigenen geheimen Lade, einem warmen Zuhause im kalten Heim, einer Stätte, die Zuflucht gewährte und Geheimes barg. So eine Lade versprach ihr der Vater; merkwürdig war sein Gebrechen: Seine Taubheit schwand, und die tiefsten Wünsche vernahm er mit tausend hellhörigen Ohren. Seine harthäutigen Finger zitterten ein bißehen und lagen auf denen Finis, und er bat sie: »Gehn wir spazieren!«

      Und Fini ging mit dem Vater durch die lauten Straßen, die langsam dunkelten, und war mütterlich, als führe sie ein Kind, und schenkte dem Vater, dem humpelnden, die ganze Liebe, die dem Stanniolpapier gegolten hatte, den seidigen Bändern und der wandelnden Frau. Sie gingen spazieren und fühlten sich geborgen vor dem eisernen Zugriff der unermüdlich säubernden Mutter.

      Einmal, unterwegs, zwischen dem Landesgericht I und der Firma Marcus & Söhne, kam der Maler Ernst und grüßte tief, wie nur große Damen aus der noblen Klientel des Doktor Finkelstein gegrüßt werden. Es ließ sich nicht verbergen, daß sie das grüngefaßte Buch trug und die wichtigen Briefe darin, um das Porto zu verdienen. »Ich mache Geschäftswege«, sagte sie und ließ den Maler warten vor den Häusern, in die sie hineinging. Dann lenkte er ihre Schritte durch


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