Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke - Йозеф Рот


Скачать книгу
nicht nach ihr. Vielleicht ist sie etwas ganz anderes als die übrige Welt, und es ist ein letzter Rest von Gläubigkeit in mir, wenn ich an sie denke. Man müßte vielleicht ein Schriftsteller sein, um das genau auszudrücken.

      Manchmal erscheint es mir notwendig, sie aufzusuchen. Ich müßte nach Paris fahren, vielleicht würde sie mir begegnen. Dazu müßte man Geld haben. Aber ich kann es nicht von Georg nehmen. Das ist eine lächerliche Hemmung. Er würde es mir wahrscheinlich geben und wäre obendrein noch sehr erfreut, daß ich ihn verlasse. Aber für alle anderen Zwecke nähme ich Geld von Georg, nur nicht für diesen.

      Und es ist außerdem an der Zeit, daß ich etwas verdiene. In dieser Weltordnung ist es nicht wichtig, daß ich arbeite, aber es ist um so nötiger, daß ich Geld einnehme. Ein Mensch ohne Einkommen ist wie ein Mann ohne Namen oder wie die Schatten ohne Körper. Man kommt sich vor wie ein Gespenst. Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Ich habe keine Gewissensbisse wegen meiner Untätigkeit, sondern weil meine Untätigkeit kein Geld einbringt, während die Untätigkeit aller anderen gut bezahlt ist. Geld allein verleiht Existenzberechtigung.«

      In jener Zeit lebte ich in Berlin. Eines Tages sagte mir M.:

      »Ich habe Irene Hartmann getroffen. Ich habe sie gegrüßt. Sie erkannte mich aber nicht. Ich gehe zurück, denke, daß ich mich geirrt habe, und grüße wieder. Sie erkennt mich aber nicht.«

      »Sie haben sich bestimmt nicht geirrt?«

      »Nein!« sagte M.

      Ich schrieb hierauf an Franz Tunda.

      »Lieber Freund«, schrieb ich ihm, »ich bin mir nicht klar über den Grund Deiner Rückkehr.

      Du weißt es ja selbst nicht. Sollte es aber Irene sein, die Du finden willst – Herr M. hat sie vor kurzer Zeit in Berlin getroffen.«

      Nach einigen Tagen kam Tunda.

      Er gefiel mir außerordentlich.

      Es dauert sehr lange, ehe die Menschen ihr Angesicht finden. Es ist, als wären sie nicht mit ihren Gesichtern geboren, nicht mit ihren Stirnen, nicht mit ihren Nasen, nicht mit ihren Augen. Sie erwerben sich alles im Laufe der Zeit, und es dauert, man muß Geduld haben, bis sie das Passende zusammensuchen. Tunda war jetzt erst mit seinem Angesicht fertig geworden. Seine rechte Augenbraue war höher als die linke. Dadurch bekam er den Ausdruck eines ständig erstaunten, über die sonderbaren Zustände dieser Welt hochmütig verwunderten Mannes, er hatte das Gesicht eines sehr vornehmen Menschen, der mit unmanierlichen Leuten an einem Tisch sitzen muß und ihr Gebaren mit herablassender, geduldiger, aber keineswegs nachsichtiger Neugier beobachtet. Sein Blick war gleichzeitig schlau und duldsam. Er schaute wie ein Mensch, der manche Schmerzen in Kauf nimmt, um Erfahrungen zu sammeln. Er sah so klug aus, daß man ihn fast für gütig halten konnte. In Wirklichkeit aber schien er mir schon jenen Grad der Klugheit zu besitzen, der einen Mann gleichgültig macht.

      »Du willst also Irene sehen?«

      »Ja«, sagte er. »Als ich deinen Brief erhielt, wollte ich sie sehen. Jetzt ist es mir wieder sehr zweifelhaft. Vielleicht würde es mir genügen, sie anzuschauen und dann zufrieden weiterzugehen.«

      »Nehmen wir den Fall, du träfst mit ihr zusammen: Sie ist glücklich verheiratet, liebt wahrscheinlich ihren Mann mit jener Liebe, die sich zusammensetzt aus Gewohnheit, Dankbarkeit, gemeinsam erlebten Ähnlichkeiten, aus der körperlichen Erfahrung, die von den zahlreichen Liebesstunden kommt, aus den zeitweilig hervorbrechenden Leidenschaften, aus der Vertrautheit, in der es keine Scham mehr gibt – glaubst du, sie würde einfach aus dankbarer Erinnerung an eine verschüttete Brautzeit an deinen Hals fliegen? Liebst du sie denn mit der Leidenschaft, die sie dazu berechtigen würde? Wäre es dir vor allem erwünscht?«

      »Das sind Dinge«, sagte Tunda, »die sich erst ereignen müßten, damit ich ihre Berechtigung erfahre. Wenn ich zu Irene rechtzeitig zurückgekehrt wäre, hätte mein Leben anders ausgesehen. Lauter Zufälle haben mich daran gehindert. Ich will dir gestehen, daß ich mir Vorwürfe mache. Ich werfe mir vor, daß ich mich wehrlos den Zufällen ausgeliefert habe. Jetzt ist es mir, als müßte ich Irene suchen, um mich zu rehabilitieren. In Wirklichkeit weiß ich nicht, was ich soll. Man muß doch ein Ziel haben?«

      »Immer noch besser ein Ziel«, erwiderte ich, »als ein sogenanntes Ideal.«

      »Immer noch besser«, sagte Tunda, »wenn es wirklich ein Ziel wäre.«

      Wir erfuhren, daß Irene drei Wochen im Hotel Bellevue gewohnt hatte und nach Paris abgereist war.

      »Ich werde hinfahren«, sagte Tunda.

      Er kam auf den Einfall, seine sibirischen Erfindungen drucken zu lassen. Dieses Buch war nicht beendet. Ich schrieb ein Nachwort, in dem ich mitteilte, daß der Autor in Sibirien verschollen und daß mir das Manuskript auf eine wunderbare Weise in die Hände gekommen sei. Es erschien unter dem Namen Baranowicz, in der Übersetzung von Tunda. Es erschien in einem großen Berliner Verlag.

      Ich entsinne mich noch, wie Tunda überrascht war von den Straßen, den Häusern. Er sah die unwahrscheinlichen Ereignisse und Tatsachen, weil ihm auch die gewöhnlichen merkwürdig erschienen. Er saß auf den Dächern der Autobusse. Er stand vor jedem der hundert grauenhaften hölzernen Pfeile, die in Berlin Richtungen anempfehlen und verbieten. Er besaß die unheimliche Fähigkeit, den unheimlich vernünftigen Wahnsinn dieser Stadt zu begreifen. Er hatte beinahe Irene vergessen.

      »Diese Stadt«, so sagte er, »liegt außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas. Sie ist die Hauptstadt ihrer selbst. Sie nährt sich nicht vom Lande. Sie bezieht nichts von der Erde, auf der sie erbaut ist. Sie verwandelt diese Erde in Asphalt, Ziegel und Mauer. Sie spendet mit ihren Häusern dem Flachland Schatten, sie liefert aus ihren Fabriken dem Flachland Brot, sie bestimmt die Sprache des flachen Landes, die nationalen Sitten, die nationalen Trachten. Es ist der Inbegriff einer Stadt. Das Land verdankt ihr seine Existenz und geht gleichsam aus Dankbarkeit in ihr auf. Sie hat ihre eigene Tierwelt im Zoologischen Garten und im Aquarium, im Vogelhaus und im Affenhaus, ihre eigenen Pflanzen im Botanischen Garten, ihre eigenen Felder aus Sand, auf denen Fundamente gesät werden und Fabriken aufgehen, sie hat sogar ihre eigenen Häfen, ihr Fluß ist ein Meer, sie ist ein Kontinent. Sie allein von allen Städten, die ich bis jetzt gesehen habe, hat Humanität aus Mangel an Zeit und anderen praktischen Gründen. In ihr würden viel mehr Menschen umkommen, wenn nicht tausend vorsichtige, fürsorgliche Einrichtungen Leben und Gesundheit schützten, nicht weil das Herz es befiehlt, sondern weil ein Unfall eine Verkehrsstörung bedeutet, Geld kostet und die Ordnung verletzt. Diese Stadt hat den Mut gehabt, in einem häßlichen Stil erbaut zu sein, und das gibt ihr den Mut zur weiteren Häßlichkeit. Sie stellt Pfeiler, Hölzer, Planken, ekelhafte, gläserne, bunte, von innen beleuchtete Kröten an die Straßenränder, in die Kreuzungen, auf die Plätze. Ihre Verkehrspolizisten stehen mit metallenen Signalen da, die wie eben und provisorisch von der Eisenbahnverwaltung ausgeliehen sind, und tragen dabei gespenstisch weiße Handschuhe.

      Außerdem duldet sie noch in sich die deutsche Provinz, freilich, um sie eines Tages aufzufressen. Sie nährt die Düsseldorfer, die Kölner, die Breslauer, um sich von ihnen zu nähren. Sie hat keine eigene Kultur in dem Sinne wie Breslau, Köln, Frankfurt, Königsberg. Sie hat keine Religion. Sie hat die häßlichsten Gotteshäuser der Welt. Sie hat keine Gesellschaft. Aber sie hat alles, was überall in allen anderen Städten erst durch die Gesellschaft entsteht: Theater, Kunst, Börse, Handel, Kino, Untergrundbahn.«

      Wir sahen in einigen Tagen: einen Amokläufer und eine Prozession; eine Filmpremiere, eine Filmaufnahme, den Todessprung eines Artisten Unter den Linden, einen Überfallenen, das Asyl für Obdachlose, eine Liebesszene im Tiergarten am hellichten Tag, rollende Litfaßsäulen, von Eseln gezogen, dreizehn Lokale für homosexuelle und lesbische Paare, ein schüchternes normales Paar zwischen vierzehn und sechzehn, das seine Namen in die Bäume schnitt und von einem Wachtmeister aufgeschrieben wurde, weil es eine Beschädigung öffentlichen Gutes verübte, einen Mann, der Strafe zahlte,


Скачать книгу