Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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die Welt anzusehen.

      Es schien Tunda, daß er einen von ihnen fragen könnte, wo Irene sei, und er würde ihm antworten oder wenigstens einen guten Rat geben. In dieser Stadt lebte Irene. In dieser Stadt lebte Frau G. Seit dem Augenblick, in dem er Paris betreten hatte, konnte er beide Frauen nicht mehr voneinander unterscheiden. Sie wurden eine Frau, und er liebte sie. Er beschloß, an Frau G. zu schreiben.

      Er wußte ihre Adresse. Er hatte sie ein dutzendmal umgeschrieben, und außerdem lag in einem Fach seiner Brieftasche jener fatale Zettel, mit dem sie sich verraten hatte.

      Er hatte neues, weiches glattes Quartpapier gekauft, es war ihm, als begänne mit diesem Papier ein neuer Abschnitt seines Lebens. Es hängt viel von solchen Dingen ab, entscheidende Briefe, Schicksalsbriefe, müssen auf einem gefälligen, einladenden, aufmunternden, fröhlichen, festlichen Papier geschrieben werden. Er schrieb diesen Brief mit violetter Tinte, um ihn gleichsam von allen anderen gewöhnlichen Briefen auszuzeichnen. Er hatte Frau G. vor allem ein Geständnis zu machen, und eines, das sie vielleicht enttäuschen würde.

      Als er aber zu schreiben anfing, glaubte er, daß gerade die französische Sprache für Geständnisse geschaffen war. Nichts Leichteres, als auf französisch aufrichtig zu sein. Die nackte Wahrheit, die immer einen brutalen Klang hat, liegt weich gebettet in den Wendungen und dennoch klar gezeichnet, sie ist mehr sichtbar als hörbar, wie es sich für eine Wahrheit geziemt. Es war gewiß ein fehlerhafter Brief, aber in keiner Sprache lassen sich so noble, so selbst um Verzeihung bittende Fehler machen wie in der französischen. Als er den Brief geschlossen und die Adresse sorgfältig gemalt hatte, war er fast so mutig wie seine junge geschminkte Hotelwirtin.

      Einige Tage vergingen. Es kam keine Antwort. Er wartete. Aber dieses Warten war nicht mit Qual verwandt und nicht mit Furcht, sondern es war wie das Warten vor einem herabgelassenen Theatervorhang.

      Er blieb den größten Teil des Tages zu Hause. Am späten Morgen erwachte er von einem regelmäßig jeden Tag einsetzenden Geräusch auf der Straße, dessen Ursache zu ergründen er sich nicht entschließen konnte. Er war neugierig. Er wollte sehen, was er jeden Morgen hörte. Aber er schob es auf – von einem Tag zum andern, es war angenehm, daß er freiwillig aufschieben konnte, und der Neugier zu befehlen gewährte einen ungeahnten, einen herrschaftlichen, einen wirklichen Machtgenuß.

      Ein Diener kam und säuberte das Zimmer, obwohl Tunda noch im Bett lag. Dieser Diener schien seit Jahrzehnten im Hotel beschäftigt, dennoch verrichtete er seine Arbeit mit einem großen, erschütternden Interesse, jedes Staubkörnchen betrachtete er mit einem neugierigen Wohlgefallen, das Waschbecken drehte er um, als hoffte er, auf der Rückseite Unerwartetes zu entdecken. Er sagte jeden Morgen: »Es ist schönes Wetter heute, Sie müßten in den Park gehen!« Jeden Morgen sagte Tunda: »Ich erwarte einen wichtigen Brief.« Er sprach zu Tunda wie ein guter Onkel zu einem eigensinnigen Neffen oder wie ein sanfter Irrenwärter zu einem gutgearteten Patienten. Er war, dieser Diener, ironisch und höflich, obwohl er gerne wie ein Poltron erscheinen wollte und immer die Wahrheit ins Gesicht sagte. »Sie schlafen aber gern!« sagte er einmal. Und je länger Tunda schlief, desto häufiger entschuldigte er sich: »Ich habe Sie geweckt, verzeihen Sie!«

      Eines Tages kam er früher als gewöhnlich, schwenkte ein blaues Kuvert und rief: »Das ist der Brief, den Sie erwarten!« Er legte ihn auf die Decke und zog schnell die Hand zurück, so, als brennte ihn das Papier, als würde es bald explodieren. Es war ein billiges, durchsichtiges, gemeines Kuvert, es fühlte sich an wie ein Löschblatt und enthielt die Rechnung.

      An diesem Tag ging Tunda zum zweitenmal aus, setzte sich in den nahen Park, einem Teich gegenüber, auf dem Knaben kleine Segelschiffchen schwimmen ließen. Er wollte einen Brief herbeilocken. Der Brief sollte überlistet werden. Er sollte nicht wissen, daß man ihn mit Ungeduld erwartete, dann würde er gewiß kommen.

      Aber es kam kein Brief.

      Tunda fragte noch einmal die junge Frau, ob man ihn nicht gesucht hätte. Und genau wie das erstemal sagte sie mit einem tröstenden Kopfnicken – es war wie das kalte berufliche Beileid eines Sarghändlers –:

      »Die letzte Post ist noch nicht dagewesen; der Briefträger kommt gegen sieben Uhr.« –

      Es kam auch mit der letzten Post nichts.

      Es wurde wieder Morgen, das bekannte unbekannte Geräusch weckte Tunda, der Diener kam, er kaute noch an seinem Frühstück. Plötzlich sagte er, während er den Hahn der Wasserleitung zärtlich zu polieren begann:

      »Irgendjemand hat gestern nach Ihnen gefragt.«

      »Wer? Wann? Um wieviel Uhr? Eine Dame?«

      »Es war so gegen fünf Uhr nachmittags –«

      Und er zog an seiner dicken silbernen Kette eine dicke silberne Uhr hervor, sah einige Sekunden lang auf sie, als hätte er sich auf dem Zifferblatt etwas notiert und wiederholte:

      »Ja, gegen fünf Uhr nachmittags.«

      »Und wer war es?«

      »Eine Dame.«

      »Hat sie nichts zurückgelassen?«

      »Nein.«

      »Eine junge Dame?«

      » Ja, es wird wohl eine junge Dame gewesen sein.«

      »Und hat sie nicht gesagt, daß sie wiederkommt?«

      »Mir nicht.«

      »Wem denn sonst?«

      »Niemandem.«

      Dann putzte er weiter ausführlich den Hahn der Wasserleitung, warf die Seife in die Luft wie einen Ball und fing sie wieder auf, lächelte und sagte:

      »Eine hübsche kleine junge Dame.«

      »Und Sie allein haben mit ihr gesprochen?«

      »Ja, ich ganz allein.«

      »Und warum haben Sie es gestern nicht gesagt?«

      »Gestern abend war ich frei. Ich bin spazierengegangen.«

      »Hier haben Sie ein Trinkgeld. Und wenn sie noch einmal kommt, sagen Sie es mir, bevor Sie spazierengehen.«

      Er warf das Geldstück in die Luft, wie vorhin die Seife, sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe«, und ging.

      Dann kam ein langer Sonnabend, der Diener brachte neue Bettwäsche und Handtücher, er streichelte sie, bevor er sie auf eine Sessellehne hängte, und wandte sich zum Gehen. Er hielt die Klinke einen Moment in der Hand, zögerte, als hätte er noch etwas Wichtiges, aber Peinliches zu sagen.

      Schließlich sprach er, schon halb in der Tür:

      »Es ist niemand dagewesen.«

      Tunda erwachte am hellen Sonntagmorgen.

      Der Himmel war ganz nahe über dem Fenster, weiße Wölkchen wehten, es war unbestreitbar Mai in der Welt.

      Es klopfte an der Tür, und der Diener sagte:

      »Jemand will Sie sprechen –«

      Frau G. trat ein.

      Sie streifte langsam einen Handschuh ab, er fiel auf die Bettdecke, leicht, von einem zärtlichen Wind hingelegt. Da lag er, hohl, schlaff, aber wie ein weiches, lebendiges, merkwürdiges Tier.

      »Nun, mein Freund«, sagte sie, »sind Sie gekommen, mich zu sehen oder die Revolution vorzubereiten?«

      »Sie zu sehen! Glauben Sie mir immer noch nicht? Es ist alles wahr, was ich Ihnen geschrieben habe. Ich schwöre es!«

      Tunda holte seine Papiere herbei, als wäre sie von der Polizei, als gälte es, seine Freiheit zu retten.

      Sie setzte sich aufs Bett – und das war wie ein Wunder. Sie kraute mit drei Fingern die Papiere, sah sie mit Verachtung an und zog die Photographie Irenes sofort hervor.

      »Wer ist diese schöne Frau?«

      »Sie


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